Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
fast froh gewesen war. Dass sie gedacht hatte: Jetzt wird man mich anhören. Jetzt kann ich etwas tun und werde erfahren, was mit Ilja ist.
In der Lubjanka stieg sie eine breite, geschwungene Treppe hinauf, folgte nicht enden wollenden Gängen.
Der Mann stand mit dem Rücken zu ihr an einem der hohen Fenster, als man sie in das Büro führte. Eine breite, dunkle Silhouette im diffusen Gegenlicht der Abenddämmerung. Er schien sich der Wirkung dieses Bildes bewusst zu sein, blieb mindestens eine halbe Minute lang so stehen, ohne sie zu beachten. Dann hob er die Arme, zog mit einem Ruck die schweren Vorhänge zusammen und drehte sich um. Während er auf sie zukam, musterte er sie unverhohlen und leckte sich mit einer kleinen Zungenbewegung die Lippen. Er stellte sich als Antip Petrowitsch Kurasch vor und sagte, er habe ihre Schönheit schon oft im Theater bewundert. Sie versuchte ein Lächeln.
Er schob den Stuhl vor dem Schreibtisch zurecht und bat sie mit großer Geste, sich zu setzen. Während er gemächlich den schweren Tisch umrundete, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. »Bitte sagen Sie mir, wo mein Mann ist.«
Er nahm in seinem Sessel Platz, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Über seinem Kopf schwebte ein überdimensionaler Stalin, der sie direkt anzusehen schien.
Kurasch öffnete die Augen, zog die Brauen hoch und schob die Lippen vor. »Meine liebe Galina Petrowna, lassen wir die Spielchen. Ich will von Ihnen wissen, wo sich Ihr Mann aufhält.«
»Aber …« Sie schluckte, dachte an Meschenows Bemerkung, dass keiner von einer Verhaftung wusste, und meinte zu verstehen. Kurasch hatte den Auftrag, die Angelegenheit zu klären. Er sollte herausfinden, wo der Fehler innerhalb des MWD passiert war.
Sie berichtete, was sie wusste. »Nach dem Konzert«, sagte sie, »zwei Männer«, sagte sie, »der Pförtner hat es gesehen.«
Kurasch blickte sie ungerührt an.
Er schob ein Schreiben über den Tisch. Ihr fielen die manikürten Nägel an den fleischigen Fingern auf. Blasse, zierliche Halbmonde, die nicht zu dieser Erscheinung passen wollten.
Sie las, spürte, wie Kurasch ihre Brüste anstarrte, während sie nach Atem rang.
»Warum, meine liebe Galina Petrowna, wollten Sie zusammen mit den Kindern Ihren Mann nach Wien begleiten?«, fragte er mit fast freundlicher Stimme.
Sie schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht«, brachte sie hervor, und gleichzeitig las sie, was da in Iljas geschwungener Handschrift stand.
»… stelle ich den Antrag, meine Frau und meine Kinder auf die Konzertreise nach Wien mitzunehmen.«
»Davon habe ich nichts gewusst«, sagte sie wahrheitsgetreu und schluckte an ihren Tränen, während sie dachte: Ilja, oh, Ilja. Du Dummkopf. Das hättest du nicht tun sollen. Warum hast du nicht mit mir gesprochen?
»Haben Sie ihn darum verhaftet?«, fragte sie leise.
Kurasch beugte sich vor. Seine zur Schau gestellte Freundlichkeit fiel augenblicklich von ihm ab.
»Hören Sie endlich auf damit«, zischte er. »Ilja Wassiljewitsch Grenko ist nicht verhaftet worden. Er hat sich ins Ausland abgesetzt.« Er lehnte sich zurück und blaffte: »Oder hat er das auch ohne Ihr Wissen getan?«
Kurzes Schweigen, dann bekam seine Stimme etwas Versöhnliches: »Das würde ich Ihnen vielleicht sogar glauben. Immerhin hat er Sie mit den Kindern zurückgelassen.«
Sie hörte ihn, und seine Worte verunsicherten sie. Hatte Ilja tatsächlich das Land verlassen wollen? Hatte er geplant, mit ihr und den Kindern fortzugehen, und dann verstanden, dass er mit diesem Antrag einen Fehler gemacht hatte? War er in Panik geraten? Sie erinnerte sich daran, wie Meschenow und Ilja in den Garten gegangen waren, dass sie diese Geheimniskrämerei irritiert hatte. Was wusste Meschenow? Hatte er von Iljas Plan gewusst?
Dann schüttelte sie den Kopf. »Der Pförtner … Wassili Jarosch. Er hat es gesehen.«
Wieder schob Kurasch ein Blatt über den Tisch.
»Protokoll der Zeugenaussage des Wassili Jarosch«, stand da. »Als Ilja Wassiljewitsch Grenko das Konservatorium durch den Hinterausgang verließ, bat er mich, zu seiner Frau zu gehen und ihr zu sagen, dass er verhaftet worden sei.« Sie las es. Sie verstand es nicht.
»Brauchen Sie noch mehr Beweise?«
Sie schwieg. Das Wort »Beweise« lag ihr im Mund wie eine ungenießbare Frucht, die sie nicht ausspucken konnte, deren Gift sich über ihre Schleimhäute in ihren Körper ausbreitete und sie lähmte.
»Das ist nicht wahr«, wollte sie schreien. »Das
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