Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
kann so nicht sein«, doch sie starrte nur auf das Papier.
»Aber unsere Wohnung«, es schien ihr wie der letzte Strohhalm. »Unsere Wohnung ist durchsucht worden, sie war völlig verwüstet und …«
Kurasch fiel ihr ins Wort. »Das waren wir. Natürlich haben wir Ihr Haus durchsucht, nachdem wir von der Flucht Ihres Mannes erfahren haben.«
Er erhob sich. »Sie können gehen«, sagte er unvermittelt.
Sie stand auf, ging mechanisch zur Tür.
»Sollten Sie weiterhin behaupten, dass Ihr Mann verhaftet wurde, wird das Konsequenzen für Sie und Ihre Kinder haben.« Ganz beiläufig sagte er das. Freundlich und wie nebenbei.
Kapitel 7
I n der Bahnhofshalle waren um diese Zeit nur wenige Menschen unterwegs. Über dem Informationsschalter sprang der Zeiger einer überdimensionalen Uhr auf 1.04 Uhr. Zwei schwarz gekleidete Wachleute standen an einem der Zugänge zu den Bahnsteigen und plauderten, einige der kleinen Läden waren die ganze Nacht geöffnet.
Von einem Backshop wehte der Duft frischer Brötchen herüber, ein Zeitungsladen bot schon jetzt die Nachrichten des gerade begonnenen Tages an. Die Stehtische eines Kiosks wurden von Männern mit Kaffeebechern umringt, Taxifahrer, die auf Fahrgäste aus den ankommenden Zügen hofften. Das Rumoren von ein- und ausfahrenden Zügen mischte sich mit der Lautsprecherstimme, die sie ankündigte.
Auch im Durchgang zu den Schließfächern stand ein Wachmann in Schwarz. Eine Informationstafel wies darauf hin, dass die Fächer höchstens eine Woche zur Verfügung standen und danach von der Bahnhofsaufsicht geöffnet wurden. Sascha spielte mit dem Schließfachschlüssel, grüßte den Mann vom Sicherheitsdienst und ging an ihm vorbei.
Schließfach Nummer 166 lag in einer Querreihe. Er öffnete die Metalltür und fand eine schwarze Umhängetasche aus Nylon, wie Schülerinnen und Studentinnen sie benutzten. Auf der Vorderseite war ein roter Aufkleber mit einem chinesischen Schriftzeichen, am Tragegurt hing ein schmuddeliger kleiner Elefant aus blaugeblümtem Stoff. Sascha nahm die Tasche an sich und verließ den Bahnhof.
Als er zum Parkplatz ging, entdeckte er unmittelbar neben seinem Wagen ein Polizeiauto. Ein Beamter saß am Steuer, machte aber keine Anstalten auszusteigen. Die waren doch immer zu zweit. Wo war der andere?
Sascha stand ungünstig, konnte nicht sehen, ob sich jemand an seinem Auto zu schaffen machte. Er dachte daran, in den Bahnhof zurückzukehren und einen Zug oder eine S-Bahn zu nehmen, aber sein Laptop lag im Wagen, und auf den wollte er nicht verzichten. Außerdem, so schnell konnten die nicht sein. Der tödliche Schuss auf Vika war gerade mal zwei Stunden her.
Für einen Augenblick war er erstaunt, wie schnell die selbstverständliche Gelassenheit seiner bürgerlichen Existenz dahin war und er wieder so reagierte, wie er es vor Jahren gelernt hatte, als jedes Polizeiauto eine Bedrohung gewesen war. Abwarten und beobachten. Fluchtwege überdenken. Nicht versuchen, unauffällig zu sein, sondern einfach nicht auffallen.
Ein Polizist kam mit zwei Kaffeebechern und einer Tüte unterm Arm aus dem Bahnhof. Er stieg in den Polizeiwagen. Sascha ging zu seinem Auto, sah zu den Beamten hinüber, die damit beschäftigt waren, Brötchen auszupacken. Sie beachteten ihn nicht. Er warf die Nylontasche auf den Rücksitz und entschied sich, die Stadt erst einmal zu verlassen.
Gut eine Stunde fuhr er auf der Autobahn. Kurz vor Ingolstadt machte sich sein Magen bemerkbar. An einer Raststätte aß er ein Baguette mit Thunfisch. Erst jetzt spürte er die Müdigkeit, und je mehr er sich entspannte, umso eindringlicher wurden die Bilder von Vika. Wie sie dagesessen und gespielt hatte, versunken, wie träumend. Wie ihr Blick durch den Raum streifte, über ihn hinwegglitt, ein Fremder unter Fremden.
Er war zu spät gekommen. Vor achtzehn Jahren hatte er sie im Stich gelassen und jetzt, so schien es ihm, schon wieder.
Warum hatte er nicht mehr nach ihr gesucht? Es war sein Job, Informationen zu beschaffen, wie oft hatte er Personen ausfindig gemacht, die untergetaucht waren. Warum hatte er nie daran gedacht, nach Vika zu suchen?
Weil er Angst gehabt hatte.
Er schluckte an einer grauen Traurigkeit.
Weil er sich, nachdem seine kindliche Suche erfolglos gewesen war, eine glückliche Vika in einem schönen Haus mit freundlichen Adoptiveltern vorgestellt hatte und später an dieser Phantasie festhielt. Den Gedanken, es könnte auch anders sein, hatte er nie zugelassen.
Er
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