Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und bat um die Rechnung.
Er war bereits im dritten Heim gewesen, als sie ihm sagten: »Vika ist adoptiert worden. Sie hat jetzt neue Eltern und einen anderen Namen.« Ganz ruhig hatten sie das gesagt, ganz selbstverständlich. Da war er elf Jahre alt gewesen, und es war, als habe man seine letzte dünne Wurzel aus der Erde gezogen. Seine Hilflosigkeit war ihm unerträglich gewesen, und nur mit Wutausbrüchen hatte er sie betäuben können.
Jahre später, als er Einsicht in seine Jugendamtsakte bekam, hatte er das schulpsychologische Gutachten aus jener Zeit gefunden, das ihn von der Hauptschule in die Sonderschule katapultiert hatte.
»Sascha ist verschlossen und reagiert grundsätzlich misstrauisch und aggressiv auf Veränderungen und fremde Menschen. Er wurde mehrfach auf seine Intelligenz in den Bereichen Sprache, Rechnen, Kombinationsfähigkeit und Logik untersucht, die Ergebnisse der Tests waren aber kaum verwertbar. Mal erzielte er einen Intelligenzquotienten von über 127 (hochbegabt), an den meisten Tagen aber lagen die Werte um 80 (schwache Intelligenz). Es ist davon auszugehen, dass es sich bei den hohen Ergebnissen um Zufallstreffer handelt. Wir empfehlen aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeit und der durchweg sehr schwachen Leistungen eine Sonderschule.«
Da war es nach all der Zeit wieder gewesen, dieses Bedürfnis, blind um sich zu schlagen. Stattdessen hatte er das Gutachten, sein Einser-Abiturzeugnis, das er mit zwanzig innerhalb von zwei Jahren im Gefängnis per Fernstudium nachgeholt hatte, und das Abschlusszeugnis seines Informatikstudiums, ebenfalls in nur zwei Jahren und mit Auszeichnung, kopiert und der Gutachterin zugeschickt. In einem Anschreiben erwähnte er, dass er schon damals über Russisch und Deutsch hinaus mit seinen Mitschülern Türkisch, Arabisch und Kurdisch gesprochen habe.
Sie hatte nie geantwortet.
Er fragte die Kellnerin, ob es im Motel nebenan noch eine Übernachtungsmöglichkeit gäbe. Sie telefonierte und nickte ihm zu.
Das Zimmer war schlicht und sauber. Er goss sich einen Whisky aus der Minibar ein, setzte sich auf das Bett, nahm die Nylontasche und leerte den Inhalt aus.
Eine blaue Sammelmappe aus Pappe, die mit einem Gummizug verschlossen war. An einigen Briefumschlägen und Fotos, die lose in der Tasche lagen, meinte Sascha die Eile zu erkennen, mit der seine Schwester die Unterlagen zusammengepackt hatte. Das Ringbuch erkannte er sofort wieder. Auf der Vorderseite war eine Erdbeere auf gelbem Grund. Zärtlich strich er darüber, schlug es aber noch nicht auf.
Er nahm die drei Fotos zur Hand, die verstreut auf dem Bett lagen. Das erste zeigte Vika mit vielleicht zehn Jahren. Sie trug einen roten Trainingsanzug und hielt eine Art Ausweis in der Hand. Rechts von ihr stand ein Mann mit angegrautem Kinnbart, links eine kräftige blonde Frau, deren Hände auf Vikas Schultern ruhten. Sie lehnten alle drei an einem Segelboot mit eingeholten Segeln. Im Hintergrund war ein karminrotes Holzhaus in einer Dünenlandschaft. Alle drei lächelten in die Kamera. Auf der Rückseite stand in der gleichen zierlichen Handschrift, mit der auch die Nachricht in der Pension geschrieben worden war: »1997. Mama, Papa und ich in Dänemark. Ich habe meinen Segelschein bestanden.«
Sascha spürte einen kleinen Stich. Das Ehepaar sah freundlich aus. Vielleicht war seine Vorstellung all die Jahre nicht falsch gewesen. Vielleicht war Vika tatsächlich behütet aufgewachsen.
Er nahm das nächste Bild. Vika, jetzt bereits eine junge Dame, an einem Flügel. Der Mann und die Frau standen neben ihr, die Münder groß. »2003. Mein Geburtstag. Mama und Papa singen mir ein Ständchen.«
Das letzte Bild zeigte alle drei eng umschlungen in einem Garten. Sie lächelten nicht. Auf der Rückseite stand: »2007. Abschied. Ich gehe zum Studium nach München. Mama und Papa sind traurig.«
»Mama und Papa« war durchgestrichen. Darunter stand »Georg und Marlis Freimann«. Auch diese Zeile war wieder ausgestrichen. Am unteren Rand stand: »Doch Mama und Papa«. Dahinter hatte Vika ein lächelndes Gesicht gemalt.
Sascha atmete tief durch. Es war ihr gut ergangen. Die Freimanns hatten sie geliebt, das sah man an der Art, wie sie Vika auf den Fotos anblickten. Und seine Schwester hatte ihre Ersatzeltern geliebt. Er strich mit dem Finger über ihr Gesicht, sagte leise »Viktoria Freimann« und spürte Erleichterung. Die Last der Schuld, die er als Kind auf
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