Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
sich geladen hatte, schien ein wenig erträglicher. Jetzt war es mehr als nur ein unantastbarer Glaube, dass Vika glücklich gewesen war.
Er nahm einen Schluck Whisky. »Es geht um unsere Familie«, hörte er Vika sagen. Hatten die Freimanns ihr erzählt, dass sie eine Grenko war?
Vielleicht würde sie noch leben, wenn sie nie von ihrer Herkunft erfahren hätte, wenn sie einfach Viktoria Freimann geblieben wäre.
Er öffnete die blaue Mappe. Obenauf lag der Brief eines Rechtsanwaltes aus Hannover. Das Datum zeigte den 12. September 1990, der Brief war an das Innenministerium der russischen Föderation gerichtet.
»… sind wir beauftragt, die Interessen unseres Mandanten Ossip Grenko zu vertreten … stellen wir Ihnen die uns vorliegenden Unterlagen in Kopie zur Verfügung, die beweisen, dass die ›Grenko-Stradivari‹ Eigentum der Nachkommen des Ilja Wassiljewitsch Grenko ist.«
Er nahm den nächsten Brief, datiert auf den 12. Dezember. Da waren seine Eltern schon tot gewesen.
Der Briefkopf wies den Unterzeichner als Mitarbeiter des russischen Innenministeriums aus. Das Schreiben war kurz.
»… dass Ilja Wassiljewitsch Grenko nie verhaftet wurde, sondern im Mai 1948 das Land (wahrscheinlich im Zuge einer Konzertreise) verließ. Die Stradivari ist somit zu keinem Zeitpunkt beschlagnahmt worden.«
Das nächste Papier war die Kopie einer Liste aller bekannten Geigen aus der Werkstatt des Stradivari. Vika hatte mit einem Marker die Zeile »Grenko Stradivarius« angestrichen. In der Rubrik Baujahr stand »1727«, dahinter folgende Bemerkung: »Zar Alexander II. erwarb die Violine 1862 in Italien und schenkte sie dem Geiger Stanislaw Sergejewitsch Grenko. Letzter bekannter Besitzer: Ilja Wassiljewitsch Grenko, Ururenkel des Stanislaw Grenko, ebenfalls ein hochbegabter Geiger. Das Instrument gilt seit den vierziger Jahren als vermisst.«
Sascha lehnte sich an das Kopfteil des Bettes. Als sie im Übergangswohnheim das Ringbuch mit den Fotos ansahen, hatte der Vater gesagt: »Du musst wissen, dass der Name Grenko in Russland einmal einen großen Klang hatte.«
Musiker. Er stammte aus einer Familie von Musikern. Der Vater war offensichtlich davon ausgegangen, dass die Geige seines Vaters beschlagnahmt worden war, und hatte sie zurückgefordert. Und Vika? Was hatte Vika herausgefunden?
Er betrachtete die Papiere und Fotos auf dem Bett, nahm die blaue Mappe wieder auf. Er fand einige russische Zeitungsausschnitte und ein Anschreiben, an das mit einer Büroklammer ein paar Kopien und ein altes, schmutziges Papier geheftet waren. Der Brief kam von einer Münchner Kanzlei und war an Vika adressiert. Das Schreiben des Anwaltes war erst vierzehn Tage alt.
»… wurde uns per Gutachten bestätigt, dass es sich um ein russisches Dosenetikett aus einer volkseigenen Fabrik in Salechard handelt. Inhalt der Dose waren Bohnen. Zusammensetzung und Alter des Papiers weisen darauf hin, dass es aus den vierziger bzw. fünfziger Jahren stammt. Unsere Recherchen haben ergeben, dass die Fabrik in Salechard von 1942 bis 1954 bestand und Teil eines Arbeitslagers war. … Was den Verbleib des Ilja Wassiljewitsch Grenko betrifft, konnten wir lediglich feststellen, dass er Ende April 1948 in Paris und London Gastspiele gab und anschließend nach Moskau zurückkehrte. Danach verliert sich seine Spur. Bezüglich der Stradivari haben wir die Anfrage Ihres Vaters Ossip Grenko an das Ministerium der russischen Föderation erneut gestellt und eine Kopie des Etikettgutachtens sowie eine Kopie des Briefes angefügt. Wir haben außerdem darauf hingewiesen, dass dem Ministerium bereits im Jahr 1990 eine Briefkopie zugegangen ist.«
Sascha legte das Papier beiseite. Es war nach drei Uhr. »Alles hängt mit dieser Geige zusammen«, war sein letzter Gedanke, bevor er erschöpft einschlief.
Erstmals seit vielen Jahren träumte er wieder den alten Kindertraum. Er kniete auf der Rückbank eines Autos und blickte zum Heckfenster hinaus. Vika lag neben ihm und schlief. Morgendämmerung. Ein schmaler violetter Streifen am Himmel, der zwischen den vorbeisausenden Baumkronen ab und an aufleuchtete. Scheinwerfer, die näher kamen. Immer näher. Blendend weiß.
Kapitel 8
E r saß auf dem Fußboden, die Hände über die Ohren gelegt. In seinem Kopf hörte er sich spielen. Johann Sebastian Bach, Violinkonzert a-Moll. Er sah die Notenblätter mit den von Kinderhand geschriebenen Anweisungen vor sich.
Aufsteigend … eilend … springend …
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