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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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transportieren.
    Juri teilte sie ein. Fünf Mann befüllten die Schubkarren, fünf schoben sie zum Hauptstollen, und zwei arbeiteten an den Loren. Sie hievten die Karren eine schmale Bretterrampe hinauf und kippten die Ladungen in die Loren. So entstand ein funktionierender Kreislauf. Die volle Schubkarre wurde neben die Lore gestellt und die zuletzt geleerte mit zurückgenommen, wo wieder eine befüllte auf sie wartete.
    Ilja war der zweiten Gruppe zugeteilt, schob die Schubkarren hin und her. »Dreihundert Meter«, hatte Stas gesagt, »wir sind dreihundert Meter unter der Erde«, und Ilja kämpfte gegen die Beklemmung an, die der Gedanke bei ihm auslöste. Der Seitenstollen war an etlichen Stellen so niedrig, dass Ilja nur gebückt gehen konnte. Sein Rücken schmerzte bald unerträglich. Seine Muskulatur war vom wochenlangen untätigen Sitzen in der Zelle und im Waggon geschwächt. Der Kohlenstaub lag wie schmutziger Nebel in der Luft, machte das Atmen schwer und klebte auf der Haut. Schon nach zwei Stunden merkte er, dass er langsamer wurde, dass er den Kreislauf ins Stocken brachte. Ihm war klar, dass das Schieben der Karren die leichteste Arbeit war und dass Stas und ein Mann, den sie Lew nannten, an den Loren den schwersten Teil übernahmen.
    Nach einer weiteren Stunde, die Ilja nur mit Mühe schaffte, gab es eine halbe Stunde Pause. Sie sammelten sich im Hauptstollen, wo die Luft nicht ganz so drückend schien, und setzten sich neben die Loren. Ein Eimer Wasser mit einer Kelle darin machte die Runde.
    »Was machen wir?«, fragte einer der Männer. Juri schnaubte. »Er ist zu groß«, sagte er schließlich, und Ilja begriff, dass es um ihn ging.
    »Beladen«, sagte Juri entschieden, »da kann er uns nicht viel versauen.«
    Ilja schloss die Augen, dachte an Rybaltschenko und an Stas’ Worte: »Wir schleppen keinen mit durch.«
    Ohne nachzudenken, sagte er: »Ich schaffe das. Ich muss mich daran gewöhnen, aber ich schaffe das.«
    Die Männer schwiegen, und die Stille kroch in die Seitenstollen, breitete sich aus, und er wusste, dass sie nicht daran glaubten.
    Juri stand auf und teilte mit kurzen Kommandos die Gruppen neu ein. Beim Beladen der Schubkarren arbeitete Stas jetzt neben Ilja, und Juri blieb bei den Loren. Nach den ersten beiden Füllungen gab Stas Ilja seine Handschuhe und zeigte ihm, wie man sich bewegen musste, um möglichst wenig Kraft zu investieren. Ilja besann sich auf die mathematischen Regeln der Musik, stellte sein inneres Metronom auf sechzig Schläge. Wie betäubt arbeitete er sich mit den immer gleichen Bewegungen diesen Takt entlang, stumpf wie eine Maschine.
    Nach drei Stunden gab es eine weitere halbstündige Pause. Er taumelte durch den niedrigen Stollen zu den Loren. Sein Körper schmerzte, und als er auf dem Boden saß und einer der Männer ihm eine Kelle Wasser reichte, wartete er auf das vernichtende Urteil. Aber niemand kommentierte seine Arbeit. Stattdessen sagte Juri: »Du bleibst beim Beladen.«
    Er zog das Stück Brot aus seiner Hosentasche, das er morgens für Rybaltschenko eingesteckt hatte, das er ihm doch hatte geben wollen, wenn sie zurück im Lager waren. Er aß es gierig und beschämt.
    In den nächsten drei Stunden fand er nicht zurück in seinen Rhythmus, merkte, dass seine Schubkarren nicht so voll waren wie die der anderen. Als sie endlich in den Käfig stiegen, stand er ans Gitter gelehnt und meinte, den Weg ins Lager nicht mehr zu schaffen. Es war still im Aufzug, die schwarzen Gesichter erschöpft und ausdruckslos. Oben nahm Ljudmila sie in Empfang, und jetzt machte ihr niemand, wie noch am Morgen, Komplimente oder zweideutige Angebote.
    Zwei Wachmänner brachten sie zu einer Holzhütte. Über der Tür stand »Waschraum«. Vor dem Eingang zogen sie sich aus und klopften den Kohlestaub aus Hosen, Hemden und Jacken. Juri bekam ein Stück Seife ausgehändigt. Das Wasser in den Schüsseln war kalt, die Seife wurde von Mann zu Mann gereicht, und als sie die Hütte verließen, streckte ein Wachmann die Hand aus und Juri gab die Seife zurück.
    Sie wurden zum Lager eskortiert, der gutgekleidete Mann ging wieder neben Juri. Man sah ihm seinen Arbeitstag nicht an. Immer noch hatte keiner der Männer etwas zu Iljas schlecht gefüllten Schubkarren gesagt. Der Abendhimmel schimmerte in der Ferne rosa, und Ilja dachte an Gerschow. »Dort liegt Gerschow, genau unter diesem Stück Himmel«, dachte er, und für einen Moment sehnte er sich danach. Nach dieser Gerschowruhe.
    Er

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