Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
bleiben, sich nicht umzudrehen und kopflos davonzulaufen. Endlich kam der Mann zurück, händigte Aivars die Papiere aus und blaffte: »Der Nächste.«
Als die schwere Tür der Kommandantur hinter ihnen zufiel, wankte Galina. Aivars zog Lydias Dokument hervor. »Nicht arbeitsfähig«, stand unverändert da, aber darunter war hinzugefügt: »Verlegung des Verbannungsortes von Karaganda nach Alma-Ata.«
Waren sie gerannt? Hatte sie gesungen? Sie wusste es später nicht mehr. Sie wusste, dass sie gedacht hatte: Endlich haben auch wir einmal Glück.
Lydia küsste Aivars und nannte ihn zum ersten Mal bei seinem Namen.
Am Tag vor ihrer Abreise verwerteten sie die Getreidereste und backten mehrere Brote.
In aller Frühe packten sie ihre dürftige Habe in zwei Koffer, breiteten Decken auf dem Boden aus, legten die beiden Töpfe, das Geschirr, die Petroleumlampe, Lydias Puppen und Stoffreste hinein und schnürten ein tragbares Bündel.
An diesem Morgen zog Galina nach langer Zeit wieder die Reisetasche hervor, nahm die Mappe mit den Zeitungsausschnitten und die losen Kartonseiten mit den Fotos zur Hand. Für einen Augenblick dachte sie darüber nach, alles zurückzulassen, endgültig abzuschließen mit dem alten Leben, das inzwischen so fern war, fremd und unwirklich. Sie strich über das Foto, das sie kurz nach der Geburt Ossips aufgenommen hatten. Wie selbstverständlich ihr dieses Familienglück und der Wohlstand gewesen waren. Wie unantastbar.
Ilja saß neben ihr, den zweijährigen Pawel auf seinem Schoß, den Blick auf Ossip gerichtet, den sie im Arm hielt. Wie verantwortungsvoll er gewirkt hatte. Er hatte gesagt, dass seine kleine Familie sein größtes Glück sei und wie sehr er sie auf seinen Reisen vermissen würde. Dieses Foto hatten sie für ihn gemacht. Es hatte ihn auf seine Konzerttourneen begleitet, aber bei seiner Flucht hatte er es zurückgelassen. Hätte sie daran erkennen müssen, dass er bereit gewesen war, ein neues Leben ohne sie zu beginnen?
Entschlossen packte sie das Bild zurück und stellte die Tasche auf Lydias Handwagen, mit dem sie ihre Habe zum Bahnhof zogen. An jenem Morgen, so meinte sie später, habe sie sich für Aivars entschieden.
Er erwartete sie auf dem Bahnhof.
Auch andere saßen mit ihren ärmlichen Besitztümern ängstlich und hoffnungsvoll zugleich auf den Holzbänken. Aivars wirkte geradezu ausgelassen. Er nahm sie in den Arm und erzählte, dass es, schon einen Tag nachdem sie ihre Papiere erhalten hatten, keine Reiseerlaubnis für Verbannte mehr gegeben hatte. »Zu viele«, sagte er, »zu viele wollen weg, und wir haben es geschafft, Galina.«
Es gab keine feste Abfahrtszeit, der Zug sollte im Laufe des Tages eintreffen. Die Reise würde etwa drei Tage dauern, aber sie wussten alle, dass es auch doppelt so lange werden konnte. Gegen Mittag hörten sie in der Ferne das schwere Stampfen der Lok, und die Menschen griffen aufgeregt nach ihren Koffern und Bündeln. Das Gedränge war groß, der Zug überfüllt. Galina und Lydia reichten Aivars das Gepäck durchs Fenster, dann bestieg Lydia mit Ossip auf dem Arm den Zug. Galina nahm Pawel an die Hand und wollte die drei schmalen Tritte hinaufsteigen, aber Pawel war, seit der Zug eingefahren war, ganz still und steif geworden. Jetzt, als er sich keinen Schritt vorwärtsbewegte, wurden auch bei ihr die Bilder ihrer letzten Reise wieder lebendig. Sie bekam kaum Luft, war wie erstarrt. Die Nächte, die Schreie der Frauen, der alkoholschwere Atem der Wachmänner, die Angst, der Hunger.
Der schrille Ton einer Trillerpfeife ertönte. Lydia rief mit Panik in der Stimme ihre Namen aus dem Zugfenster. Aivars sprang heraus, hatte intuitiv verstanden, was in ihnen vorging. Er nahm Pawel auf den Arm, sprach zu dem Kind, versuchte mit seinen Worten gleichzeitig sie zu erreichen: »Das hier ist ein anderer Zug, eine andere Reise. Es wird nichts passieren, das verspreche ich.« Mit zitternden Knien und von Aivars geschoben, bestieg sie im letzten Moment den Zug.
Lange saß sie zusammengekauert auf der schmalen Holzbank und starrte vor sich hin. Hörte das Rattern der Räder unter sich, und jedes »Ratata-Ratata« weckte vergessen geglaubte Bilder an den Transport von Moskau nach Karaganda. Sie waren schon über eine Stunde unterwegs, als Aivars einen Mitreisenden ansprach, der eine Flasche Wodka bei sich hatte. Die Flüssigkeit brannte ihr in der Kehle, holte sie zurück in die Wirklichkeit und vertrieb die Erinnerungen. Sie hob den Blick,
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