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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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etwas Geld, entschuldigte sich für die unsaubere Schrift und sprach ihren Dank aus.
    Der Arzt, der das Schreiben mit nach Moskau nahm, kam Anfang Januar zurück. Inzwischen war der Hunger bei Galina, Lydia und den Kindern ein ständiger Gast. Sie ernährten sich von immer dünner werdender Getreidesuppe und warteten sehnlich auf Meschenows Antwort. Der Brief, den Olga ihr am 14. Januar 1950 überreichte, war nicht von Meschenow, das erkannte Galina bereits an der Schrift auf dem Kuvert. Geschrieben hatte ihn Meschenows Tochter Sonja. Er war kurz und endgültig. Ihr Vater sei sehr krank, und der Verdacht, er habe Kontakt zu Ilja Wassiljewitsch Grenko, sei unerhört.

Ihr Schicksal, Galina Petrowna, ist bedauernswert, und mein Vater hat mich angewiesen, Ihrer Bitte zu entsprechen und Ihnen noch einmal Geld zu schicken. Er ist sehr krank, und der Brief hat ihn außerordentlich aufgewühlt. Ich erwarte, dass Sie sich zukünftig nicht mehr an ihn wenden und seiner Gesundheit nicht weiteren Schaden zufügen.

    Galina empfand Bedauern für Meschenow, aber gleichzeitig machte sich Zorn in ihr breit. Sie hatte Sonja vor einigen Jahren kennengelernt. Damals war sie ein schüchternes Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren gewesen, die Ilja angehimmelt hatte. Inzwischen musste sie achtzehn oder neunzehn sein. Wortwahl und Schrift zeigten eine ausgesprochen selbstbewusste junge Frau, und sie war wohl inzwischen verheiratet, denn der Brief war mit Sonja Michajlowna Kopejewa unterschrieben.
    Der Umschlag enthielt die gleiche Summe wie im Vorjahr.
    Ein letztes Mal!
    Sie nahm das Geld, las noch einmal die Zeile: »… ist es unerhört anzudeuten, mein Vater könne Kontakt zu einem Landesverräter haben …«, und warf den Brief in den Ofen.
    In den Monaten danach lebten sie so sparsam wie möglich, saßen abends im Dunkeln, um kein Petroleum für die Lampen zu verschwenden, ließen die Mäntel im Haus an und hielten das Feuer im Ofen, wann immer es ging, klein.
    Im Mai 1950 verbreitete sich unter den Arbeitern in Windeseile ein Gerücht. In Alma-Ata, hieß es, würden neue Fabriken gebaut und Arbeitskräfte gesucht. Die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung seien besser und, was das Wichtigste war, auch Verbannte konnten sich an die Kommandantur wenden und um eine Verlegung nach Alma-Ata ersuchen.
    Aivars war entschlossen, den Antrag zu stellen. Er hatte von fruchtbarem Land gehört, vom Tian-Schan-Gebirge, von Wäldern und fischreichen Flüssen. »Weg aus dieser öden Steppe«, flüsterte er eindringlich. »Die Winter sind milder dort, die Sommer länger. Es heißt, am Stadtrand hätten viele einen eigenen kleinen Gemüsegarten. Ich bin sicher, dass wir ein besseres Leben haben werden.«
    Er hatte »wir« gesagt. Sie sah in seinen Augen diesen Schimmer, der mehr war als Freundschaft und der sich in ihren Augen nicht widerspiegelte. Aivars war zuverlässig, hatte eine ruhige überlegte Art, und auch die Kinder mochten ihn gern. Sie konnte sich vorstellen, mit ihm zu leben, und wenn sie zu zweit wären, dann könnten sie dem Hunger, der hier im nächsten Winter unvermeidlich auf sie zukommen würde, vielleicht entgehen.
    Aber da war auch Lydia. Sie galt als nicht arbeitsfähig, ihr würde man einen Wechsel des Verbannungsortes nicht bewilligen.
    Als Galina zu Hause zum ersten Mal vorsichtig von Alma-Ata sprach, brach Lydia in Tränen aus, und der inzwischen dreieinhalbjährige Ossip fiel in das Weinen ein und klammerte sich an die alte Frau.
    Am nächsten Tag sagte Galina zu Aivars, dass sie nicht fortkönne, dass sie Lydia nicht alleine zurücklassen dürfe. »Ohne Lydia«, sagte sie, »hätte ich die Zeit hier nicht überstanden. Ich kann sie nicht zurücklassen.«
    »Dann müssen wir eine Erlaubnis kaufen«, antwortete er ganz selbstverständlich.
    Eine Woche später investierte Galina einen Teil des letzten Geldes von Meschenow in die Bestechung eines Angestellten der Kommandantur. Mit klopfendem Herzen standen sie vor dem Schreibtisch. Aivars schob die Anträge auf Ortswechsel zusammen mit seinen, ihren und Lydias Papieren über den Tisch.
    Zwischen die Blätter hatten sie einen ganzen Monatslohn gelegt. Der Angestellte entdeckte das Geld, sah sie misstrauisch an und studierte dann die Dokumente. Wortlos ging er mit den Papieren und dem Geld in einen hinteren Raum. Galina spürte ein Zittern in den Knien, sah, dass Aivars der Schweiß auf der Stirn stand. Es dauerte mehrere Minuten, und sie musste sich zwingen, stehen zu

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