Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
geklärt hatte, erschien Reger persönlich. Der Fahrer hatte noch am selben Abend seine Papiere bekommen.
Der Flug ging über Amsterdam und sollte, inklusive der Wartezeit in den Niederlanden, sechzehn Stunden dauern. Als Sascha nach drei Stunden Aufenthalt in Amsterdam die Maschine nach Almaty bestieg, ließ er die anderen Fluggäste vor und achtete darauf, welche Passagiere auch auf dem Flug Köln–Amsterdam an Bord gewesen waren. Es waren vierzehn. Der Mann, der auf der Terrasse des Hotels gesessen hatte, war nicht dabei.
Er war bereits auf der Gangway, als er die Durchsage hörte. »Letzter Aufruf für Herrn Dmitri Kalugin, Flug 4512 nach Almaty. Bitte melden Sie sich an Gate 22.«
Sascha blieb einen Augenblick stehen. Dmitri Kalugin? Man hätte die Strecke Köln–Amsterdam inzwischen auch spielend mit dem Auto schaffen können. Sascha ging an Bord. Selbst wenn es der Mann sein sollte, er würde es wohl nicht wagen, ihn im Flugzeug anzugreifen.
Reger hatte erster Klasse gebucht, und Sascha fragte die Stewardess nach dem Start, ob Herr Kalugin seinen Flug noch erreicht habe. Sie lächelte zufrieden. »Ja, in letzter Minute.«
Er nahm sein Laptop. Ihm fehlten die Programme, die er im Büro benutzte, aber er konnte es zumindest versuchen. Er gab Kalugin, Dmitri ein. Wider Erwarten landete er einen Treffer. Dmitri Kalugin war Übersetzer für slawische Sprachen und wurde als freier Mitarbeiter einer Dolmetschervermittlung geführt. Sitz des Vermittlungsbüros war Köln.
Kapitel 17
U m fünf in der Frühe heulte die Sirene über das Gelände. Die Männer liefen zur Essensbaracke, drängelten an der Essensausgabe, und Ilja war einer der Letzten, der einen Blechnapf mit Hirsebrei und ein Stückchen Brot entgegennahm. Kaum dass er saß, jaulte die Sirene erneut und rief zum Morgenappell. Er schlang den Brei hinunter und steckte das Brot in die Hosentasche. Auf dem Weg zum Appellplatz hielt er Ausschau nach Rybaltschenko. Er lief um die Essensbaracke herum, rief nach ihm. Zwei andere verwahrloste Gestalten standen am Hintereingang zur Küche. Der Koch trat nach ihnen.
Auf dem Appellplatz standen sie in Zehnerreihen. Zwanzig Reihen zu je zehn Mann. Still standen sie, unbeweglich. Eine Viertelstunde? Zwanzig Minuten? Dreißig? Nichts geschah. Die Kälte der Nacht lag noch in der Luft, und als Ilja zu zittern begann, zischte Juri neben ihm: »Verdammt, wieso hast du keine Jacke?«
Es war ihnen nicht erlaubt zu reden, und Ilja flüsterte, dass er sie gegen Schuhe im Magazin eingetauscht habe, sie aber zurückbekäme, wenn er genug Tabak verdient habe. Stas stand hinter ihm und gab ein leises »Idiot« von sich.
Aus den Augenwinkeln nahm Ilja wahr, dass Juri mit einem kleinen, drahtigen Mann, der am anderen Ende der Reihe stand, Blicke wechselte. Er war auffällig gut gekleidet und wohl der Einzige, dessen Kopf nicht geschoren war. Sein dunkles Haar war ordentlich nach hinten frisiert. Er trug geputzte Lederschuhe, und für einen Moment meinte Ilja, an seinem Handgelenk eine Uhr aufblitzen zu sehen.
Endlich kam der Lagerkommandant, und sie zählten durch. In Fünferreihen, eskortiert von Aufsehern mit Hunden, ging es zum Tor hinaus den zwanzigminütigen Fußmarsch zum Schacht.
Zwei Reihen vor ihm ging Juri jetzt direkt neben dem Mann mit den geputzten Schuhen. Sie sprachen leise miteinander.
Eine Frau stand am Schachteingang, öffnete die Gittertür eines Käfigs, in dem zehn Männer Platz fanden und der sie hinunter zu ihren Arbeitsplätzen brachte. Sie bediente einige Hebel, und der Käfig senkte sich ruckelnd in die Tiefe. Die Männer machten ihr, während sie oben warteten, derbe Komplimente und unverhohlene Angebote. Die Frau hieß Ljudmila und nahm die Bemerkungen der Häftlinge mit einem gutmütigen Lächeln hin. Von Stas erfuhr er, dass sie eine »Bürgerin« war und in Workuta lebte. »War zehn Jahre im Frauenlager«, sagte er, »dann hat sie den Sprengmeister geheiratet.« Ilja verstand nicht, wie man freiwillig in dieser Einöde bleiben konnte und nicht in die Heimat zurückkehrte.
»Wovon denn?«, blaffte Stas. »Sie schicken dich vor das Lagertor und sagen: Du bist frei. Wie willst du nach Hause kommen, mit leeren Taschen?«
Die 35. Brigade arbeitete im Seitenstollen 10. Wenn der Sprengmeister, ebenfalls ein ehemaliger Häftling und jetzt »Bürger«, das kohlehaltige Gestein abgesprengt hatte, war es ihre Aufgabe, die Gesteinsbrocken auf Schubkarren zu laden und zu den Loren im Hauptstollen zu
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