Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
ging außen, Stas neben ihm. Immer wieder rutschte und stolperte er auf dem schlammigen Weg. Stas griff jedes Mal nach ihm. »Wenn du die Reihe verlässt«, schimpfte er flüsternd, »gilt das als Fluchtversuch und sie knallen dich ab. Also pass gefälligst auf.« Wie betäubt nickte er und dachte: »Sollen sie doch.«
Auf dem Appellplatz zählten sie erneut durch. Ilja wankte. Er hörte Juri »Hundert Prozent, zwölf Männer« rufen und konnte es nicht glauben.
An der Essensausgabe wiederholte Juri die Angaben und schob Ilja vor sich her. Er bekam die erste Schüssel Suppe und ein großes Stück Brot. Obwohl die Schüssel gut gefüllt war, nahm Juri sie Ilja aus der Hand und reichte sie zurück. »Fett«, schimpfte er, »wir brauchen Fett!« Der Koch schöpfte knurrend aus einem anderen Topf eine weitere Kelle mit undefinierbaren Fischstücken dazu.
Ilja aß gierig. Er spürte, wie mit jedem Löffel Suppe, mit jedem Bissen Brot ein wenig Leben in ihn zurückkehrte. Seine Hände schmerzten, er konnte kaum den Löffel halten. Als nur noch ein kleiner Rest in der Blechschüssel war, fiel ihm Rybaltschenko ein. Vielleicht würde er vor der Baracke sein. Und noch während er das dachte, steckte er sich das letzte Stückchen Brot in den Mund. Zutiefst beschämt kaute er, spürte Tränen aufsteigen, verdeckte die Augen mit der Hand. Er war sich fremd geworden.
Als er die Baracke verließ, sah er Rybaltschenko an einer der Seitenwände kauern, den Oberkörper hin und her schaukelnd. Er ging nicht zu ihm. Voller Abscheu für sich selbst lief er zur Schlafbaracke, wollte nur noch schlafen und vergessen.
Die Männer seiner Brigade saßen mit anderen Häftlingen vor der Baracke. Auf Steine gelegte Bretter dienten als Bänke. Sie rauchten. Als er näher kam, sah er den Mann aus dem Magazin eilig davongehen. Juri stand auf und reichte Ilja die Jacke, die er verpfändet hatte. »Du wirst mit einem Urka nie wieder einen Handel machen. Wenn du ein Problem hast, kommst du zu mir, ist das klar?«
Ilja nahm die Jacke und bedankte sich. Kolja, der Barackenälteste, rückte auf und machte ihm Platz, aber er schüttelte den Kopf und ging wortlos zu seinem Schlafplatz.
Seine letzten Gedanken galten der Jacke. Er meinte, dass die Rückgabe etwas mit dem auffälligen Häftling zu tun hatte, dem Mann, mit dem Juri auf dem Weg zum Schacht geredet hatte.
Kapitel 18
A ivars war bald mehr als nur ein Arbeitskollege, wurde ein guter Freund. Er wohnte am Stadtrand, in einem winzigen Zimmer hinter einer Schusterei, in der bis in die Nacht Licht brannte und beständig ein feines Klopfen zu hören war. Sonntags ging Galina mit den Kindern zum Krankenrevier und besuchte Olga, und manchmal trafen sie sich danach auch mit Aivars. Sie schlenderten durch die Straßen, und Aivars erzählte den Kindern Geschichten aus Lettland, sprach von Feen, Trollen und Seeräubern, und Galina hörte das Heimweh in seiner Stimme.
Lydia machte aus ihrer Abneigung keinen Hehl, nannte ihn abfällig den »Letten«. Galina beruhigte sie, sagte: »Du musst dir keine Sorgen machen. Du gehörst doch zu mir und den Kindern. Wir verlassen dich doch nicht.« Aber Lydia blieb misstrauisch.
Wie im Jahr zuvor kam der Winter über Nacht. Im November blies der Wind über die unendliche Ebene und trieb der Arbeitskolonne den Schnee ungebremst entgegen. Immer wieder mussten sie die Baustellen freischaufeln, um dann mit Pickeln den gefrorenen Boden zu lockern. Eingepackt in sämtliche Kleidungsstücke, die sie besaßen, sahen sie aus wie Larven kurz vor der Verpuppung. Die Bewegungen waren ungelenk und anstrengend, und sie schafften nur einen Bruchteil der vorgegebenen Strecke. An Galinas Fingerknöcheln zeigten sich erste Erfrierungen. Unter blassen Hautstellen lagen schmerzhafte Schwellungen.
Der Lohn für den Oktober war karg gewesen, aber was ihnen im November ausgezahlt wurde, reichte zum Leben nicht aus. Im Dezember schrieb Galina erneut einen Bittbrief an Meschenow. Ihre Finger schmerzten, und die feinen Bewegungen beim Schreiben fielen ihr schwer. Ihre einst so schön geschwungene Schrift lag jetzt zittrig und kantig auf dem Papier. Sie schrieb:
»… Haben Sie etwas von Ilja gehört? Ein Lebenszeichen? Wissen Sie, wo er sich aufhält? Dass er mich nicht erreichen kann, ist mir ja verständlich, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass er Sie, werter Michail Michajlowitsch, seinen väterlichen Freund und Lehrer, vergessen hat.«
Zum Ende hin bat sie ihn erneut um
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