Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Kolja zog genüsslich an seiner krummen Zigarette.
»Außerdem warfen sie die Urki hinaus, die hier in der Baracke als Spitzel dienten.«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Wir haben gedacht, das ist unser Ende. Domorow schickte seine Leute noch in derselben Nacht, aber Juri und die anderen erwarteten sie. Das Ergebnis waren fünf tote Urki.«
»Und die Wachen?«, fragte Ilja.
»Nein, nein, Jungchen. Die Wachmannschaften verlassen das Gelände nach dem Abendappell. Die hocken oben auf ihren Türmen und bewachen die verbotene Zone, falls einer abhauen will.«
Kolja warf seinen Zigarettenstummel in den Ofen.
»Am nächsten Morgen war die Durchreiche der Essensausgabe geschlossen. Die Urki, etwa vierzig Männer, saßen schon zusammen und aßen. Innerhalb von Sekunden war der Tisch umstellt. Stas und Gregor packten die Köpfe der Männer links und rechts neben Domorow und brachen ihnen mit nur einer Handbewegung das Genick. Juri hielt Domorow ein geschliffenes Blechstück von einer Dose an den Hals. Sie traten die Tür zur Küche ein und gaben Essen aus. Während wir eilig aßen, stand Juri mit dem wehrlosen Domorow am Tisch, bis wir fertig waren. Tagsüber, in der Mine, blieb es ruhig. Erst auf dem Rückweg ins Lager schubsten sie feige drei von Juris Männern aus den Linien, und die Wachleute erschossen sie. Jeder konnte erkennen, dass das abgesprochen war.«
Kolja machte ein schmatzendes Geräusch. »Tja, und damit hatten Domorows eigene Leute den Ehrenkodex der Wory w sakone verletzt. Er kam noch am selben Abend und bot an, die vier Urki, die dafür verantwortlich waren, an Juri zu übergeben. Juri lehnte ab, und Domorow erledigte das selber. Am nächsten Abend ließ der damalige Lagerkommandant Beresch nach dem Abendappell Wachmannschaften auf dem Gelände patrouillieren.«
Kolja zeigte mit einer kurzen, wedelnden Bewegung der linken Hand auf seinen Hals. »Am nächsten Morgen waren die beiden Wachmänner, die Juris Männer erschossen hatten, ebenfalls tot. Sie lagen mit durchschnittener Kehle hinter der Krankenbaracke. Wir wurden auf den Appellplatz getrieben, sollten so lange stehen, bis jemand reden würde, denn das Problem waren nicht nur die beiden toten Wachmänner, das eigentliche Problem war, dass deren Gewehre fehlten.«
Kolja zuckte mit den Schultern. »Sie durchsuchten alle Baracken, fanden sie aber nicht. Blieb also nur Baracke 3. Das war Domorows Residenz, und an die hatte Beresch sich noch nie herangetraut. Wir standen bis zum späten Nachmittag. Schließlich ließ Beresch die Nummer 3 durchsuchen. Domorow, der in der ersten Reihe auf dem Platz stand, sah ihn ganz ruhig an. Man konnte zusehen, wie Beresch, der nervös auf und ab marschierte, der Angstschweiß in den Kragen seiner schönen Uniform tropfte.«
Kolja verstaute die leere Blechdose, aus der sie getrunken hatten, zwischen zwei Balken hinter dem Ofen.
»Sie fanden die Gewehre nicht. Beresch blieb nichts anderes übrig, als elf Tote, davon zwei Wachmänner, und den Verlust von zwei Gewehren an die Lagerhauptverwaltung nach Workuta zu melden und um Hilfe zu bitten. Er wusste wohl, dass das seine einzige Chance war, wenn er überleben wollte. Auf dem Appellplatz ließ er sich jedenfalls nicht mehr blicken.«
Kolja lachte meckernd und zeigte einen dunkelbraunen Zahnstummel.
»Schon am nächsten Tag kamen vier Verwaltungsbeamte aus Workuta. Beresch wurde ausgetauscht, und vierzehn Häftlinge landeten im Isolator. Auch Juri und Domorow. An jedem neuen Tag, an dem die Gewehre nicht auftauchten, sollte einer der Männer erschossen werden.«
Die Sirene heulte und zeigte damit an, dass der freie Tag zu Ende ging.
Als sie zur Essensbaracke hinübergingen, fragte Ilja: »Wie viele Männer sind erschossen worden?«
»Keiner!«, sagte der Alte zufrieden. »Die Gewehre lagen am nächsten Morgen auf dem Appellplatz.«
»Und Domorow?«
»Der hat mit Schermenko eine Art Waffenstillstand ausgehandelt, und Gott gebe, dass er noch lange hält.«
An diesem Abend schaffte Ilja es, ein gutes Stück seines Brotes nicht aufzuessen, sondern in die Tasche zu stecken. Er dachte an Koljas Päckchen mit Tee und Zucker aus der Heimat. Er hatte keine Posterlaubnis, dachte an Galina und fragte sich, ob sie inzwischen wusste, wohin man ihn gebracht hatte.
Als er die Essensbaracke verließ, sah er sich nach Rybaltschenko um. Jemand packte ihn am Arm und zog ihn zur Seite. Es war Stas. »Sie haben ihn gestern über den Zaun geworfen und verscharrt«, sagte er
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