Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
hier reden. Ich komme dich bald besuchen. Versprochen.«
Er sah die Enttäuschung in ihrem Blick, legte seinen Arm um ihre Schultern, und sie gingen nebeneinanderher zu einem der Teiche. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Tjotja Alja fragte nach Vika.
»Warum hast du deine Schwester nicht mitgebracht, Saschenka? Wie geht es der kleinen Vikuscha?« Munter plapperte sie weiter: »Ach, was rede ich denn da. Sie ist ja auch schon erwachsen.«
Über ihnen zwitscherten Vögel, Spaziergänger schlenderten vorbei, und Sascha meinte, es nicht über die Lippen zu bringen. Nicht jetzt, nicht hier.
In Gedanken suchte er nach Formulierungen, nach Sätzen, die das Leid, das er ihr bereiten würde, lindern könnten. Er ergriff den Arm der Tante, führte sie zu einer Bank unter einer breiten Ulme. Durch das Blattwerk fiel gesiebtes Licht.
Er fand keine Umwege, keine Floskeln, schluckte mehrere Male und sprach dann von Viktorias Tod. Die Tante krümmte sich wie unter Schmerzen.
Er hielt sie, zog tröstend ihren Kopf an seine Brust, so wie sie es getan hatte, wenn er sich als Junge verletzt oder gestritten hatte.
Langsam beruhigte sie sich, schneuzte sich die Nase und nickte ihm zu. Jetzt wollten ihre Fragen kein Ende nehmen. Er erzählte von Deutschland, davon, wie sein Leben verlaufen war. Dass er abgerutscht war und im Gefängnis gesessen hatte, ließ er weg. Es war egal, wie er es formulierte, Tjotja Alja würde sich Vorwürfe machen, würde sich schuldig fühlen. Die Tante tätschelte immer wieder seine Hand und flüsterte: »Ach, Jungchen« oder »Ach, mein Saschenka«. Zum Schluss erzählte er von den Ereignissen im Hotel, von den Papieren, die Vika hinterlegt hatte, und fragte sie, was sie darüber wisse. Als er schwieg, griff sie in die bunte Kunststofftasche, die sie neben sich gestellt hatte, holte eine Thermoskanne und zwei Teegläser hervor und schenkte ein.
Sie tranken den stark gesüßten Tee. Er drängte sie nicht. Ganz unvermittelt begann sie zu erzählen.
»Diese Papiere sind ein Fluch, Sascha, bei Gott, sie bringen nur Tod, und zum Ende hin, kurz bevor sie starb, hat auch deine Babuschka Galina das eingesehen. ›Domorow‹, hat sie gesagt. ›Ach, hätte Sergei Domorow uns doch nie gefunden.‹ Ich weiß nur wenig darüber. Damals waren dein Vater und Pawel ja noch Kinder, und ich habe deinen Onkel erst 1971 kennengelernt. Es muss Ende der fünfziger Jahre gewesen sein. Deine Großmutter lebte damals mit Aivars, der alten Lydia und ihren Söhnen in einer Arbeitersiedlung am Stadtrand. Sie glaubte ihren Mann Ilja im Ausland, war davon überzeugt, dass er sie und die Kinder ihrem Schicksal überlassen hatte. Aber dann stand Sergei Domorow vor der Tür und brachte diesen Brief. Ach, ein Brief war es nicht mal, es war ein Dosenetikett. Galina war tagelang nicht ansprechbar. Sie schämte sich, weil sie ihrem Gefühl nicht getraut hatte, weil sie all die Lügen geglaubt hatte.«
Alja atmete schwer. »Es ging um diese Geige, und Domorow versprach Galina, der Sache in Moskau nachzugehen. Ich meine, er schrieb ihr einige Monate später, dass die Geige unauffindbar sei und Kurasch seine gerechte Strafe bekommen habe. Aber Galina reichte das nicht. Sie verbiss sich in eine Art Bußeschwur und gelobte, Iljas letzten Wunsch zu erfüllen. Sie meinte wohl, ihm das schuldig zu sein. Aber sie war verbannt, durfte Alma-Ata nicht verlassen. Erst einige Jahre später fuhr sie nach Moskau. Was dort wirklich geschah, weiß ich nicht genau. Sie ging an Krücken, als sie zurückkam.
Als ich Pawel kennenlernte, war das Schicksal deines Großvaters und diese Moskaureise wie ein unsichtbares Band zwischen Galina und ihren Söhnen, es war, als würden sie gemeinsam auf etwas Bestimmtes warten. Manchmal gab es Andeutungen über die Stradivari, aber es ging wohl immer um den Ruf deines Großvaters, und das Instrument, so war jedenfalls mein Eindruck, war der einzige Beweis, dass er damals verhaftet worden war. Manchmal sprachen Pawel oder Ossip davon, nach Moskau zu fahren, aber Galina verbot es. Sie sagte immer: ›Es ist nicht die Zeit.‹ Ich glaube, sie hatte Angst um die beiden.«
Sascha stellte sein Teeglas neben sich auf die Bank. »Aber sie hatten doch Großvaters Brief. Und Domorow. Er war mit ihm im Lager gewesen. Er war doch ein Zeuge.«
Alja lächelte. »Du hast falsche Vorstellungen, Saschenka. Einflussreiche Leute hatten deinen Großvater verschwinden lassen. In den Zeitungen hatte man ihn zu einem Verräter
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