Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
goss Wodka nach. Domorow nahm das gefüllte Glas. »Ilja sagte mir, dass er den Pförtner gebeten hatte, Ihnen von seiner Verhaftung zu erzählen. Hat er das nicht getan?«
Galina starrte an ihm vorbei. Woher wusste er davon?
Im Zimmer war es still. Eine Motte flog unter den papiernen Lampenschirm, der über dem Tisch hing. Der Flügelschlag und das Klopfen, wenn sie wieder und wieder gegen die Glühbirne stieß, füllten den Raum mit einem surrenden Takt, und in diesem Takt schien sich Domorows Frage zu wiederholen. »Hat er das nicht getan?« wurde zur Anklage, zum Schuldspruch, und die Motte stieß ihren Körper immer heftiger gegen die Glühbirne, und Galina dachte an Jarosch, an seine aufgeregten Gesten, an den nächsten Tag, an dem er angeblich krank geworden war, an den jungen Mann in der Pförtnerloge, der drohend zum Telefonhörer gegriffen und sie geradezu angefleht hatte zu gehen. Und an Kurasch. Kurasch, der ihre Frage nach Ilja so selbstverständlich zurückgegeben hatte. »Wo Ihr Mann ist? Das wüsste ich gerne von Ihnen.«
Immer noch lag der abgegriffene Zettel auf dem Tisch. Zum ersten Mal dachte sie: »Ilja war in einem Lager. Ilja ist tot.« Sie spürte die Tränen nicht. Mit zitternder Hand griff sie nach dem Papier und faltete es auseinander. Die Buchstaben waren ungelenk und viel zu klein. Nein, das hatte Ilja nicht geschrieben, das war nicht seine steil aufsteigende, mit verspielten Rundungen versehene Schrift.
Sie begann zu lesen, schaffte es bis zu der Zeile: Man hat mir im Namen des Verhöroffiziers Antip Petrowitsch Kurasch zugesagt, dass du mit den Kindern unbehelligt in Moskau leben kannst, wenn ich ein Geständnis unterschreibe. Das habe ich getan.
Das Papier fiel zu Boden. Unter dem Lampenschirm war es jetzt still. Die Motte krabbelte orientierungslos über den Küchentisch.
Ilja hatte sie nicht verraten, nicht zurückgelassen. Sie hatte den Lügen geglaubt, hatte ihm nicht vertraut. Sie hatte ihn verraten.
Domorow erzählte vom Lager, sagte, Ilja habe davon gesprochen, Galina würde zusammen mit seinem alten Professor von Moskau aus etwas unternehmen und seine Freilassung erwirken. Sie hielt sich die Ohren zu, flehte ihn an, aufzuhören.
Als er ging, versprach er, sich nach der Geige zu erkundigen. »Ich finde Kurasch«, sagte er, »und er wird reden, darauf können Sie sich verlassen, Galina Petrowna.«
Kapitel 22
I rina verschlief den Flug.
Er sah auf die Uhr. Er hatte versucht, Reger zu erreichen, bisher ohne Erfolg. Er wollte wissen, wie weit die polizeilichen Ermittlungen in Deutschland waren.
Tjotja Aljas Bitte, sofort nach Hause zu fliegen, hatte ihm unvermittelt vor Augen geführt, dass er genau das nicht tun konnte. Sie würden ihn verhaften. Selbst wenn er die Papiere vorlegen würde, wer sollte ihm glauben? Der Tod der Eltern galt als Unfall, und er ahnte, wie man den Rest der Geschichte auslegen würde. Eine wertvolle Geige, und der Kleinkriminelle Sascha Grenko, der versuchte, sie seiner Schwester abzujagen.
Vikas Notizzettel war ihm eingefallen und dass er einen Fehler gemacht hatte. Den Umschlag mitsamt der Notiz hatte er im Handschuhfach des Leihwagens in Ingolstadt zurückgelassen. Nur die Unterlagen aus dem Schließfach waren ihm wichtig erschienen.
Er musste Reger erreichen, herausfinden, ob die Polizei den Wagen und die Notiz gefunden hatte.
Er betrachtete die schlafende Irina. Bisher war sie all seinen Fragen zu ihrer Person ausgewichen, hatte immer wieder geschickt das Thema gewechselt.
Das Wort »unnahbar« fiel ihm ein und erinnerte ihn an den ersten Bericht der Jugendstrafanstalt, den er Jahre später hatte einsehen können. Darin hatte gestanden: »Sascha Grenko ist ein Einzelgänger, schließt keine Freundschaften und wirkt unnahbar.«
Er blickte zum Fenster hinaus. Unter ihm drängten sich Wolkenfelder aneinander, weiß und unberührt wie endlose Schneelandschaften.
In dem Bericht hatte auch gestanden: »Grenko ist nicht in der Lage, Vertrauen aufzubauen. Er spricht mehrere Sprachen, verweigert aber alle Bildungsangebote und hat keinen Schulabschluss. Eine Entwicklungsprognose ist schwierig.«
Aber schon ein Jahr später hatte Nils seine Umlaufbahn gekreuzt und sie grundlegend verändert. Nils war Informatiker und bot im Gefängnis einmal pro Woche einen Computerkurs an. Eine Welt, die Sascha sofort fasziniert hatte. Plötzlich war da ein Ziel gewesen. Informatiker werden. Man hatte ihn milde belächelt und den Kopf geschüttelt. Nur Nils
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