Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
sagen Sie mir, ob Sie jemanden erkennen.«
Die Begegnung mit der Tante, die vertraute Stimme und Sprache, all das hatte Sascha unvorsichtig werden lassen, hatte ihm dieses uralte Kindergefühl von Sicherheit gegeben. Er war unaufmerksam gewesen.
Irina hatte offensichtlich alle Parkbesucher, die sich während des Treffens in der Nähe befunden hatten, fotografiert. Ein Mann, vielleicht Ende dreißig, in Poloshirt und khakifarbener Freizeithose, war auf mehreren Bildern zu sehen. Er zoomte das Gesicht näher heran. Es war nicht der Mann mit dem Buch. Aber er erkannte ihn. Er hatte im Flugzeug gesessen.
Sascha zog den Zettel der Tante aus seiner Tasche, doch Irina schüttelte den Kopf. »Lassen Sie das. Sie werden sie nur unnötig erschrecken. Der Mann ist nicht Ihrer Tante gefolgt, sondern Ihnen.«
Er legte die Kamera zurück. »Hören Sie, Irina«, und ihr Vorname kam ihm ganz selbstverständlich über die Lippen. »Der Mann hat im Flugzeug gesessen, und ich wette mit Ihnen, dass er als Dmitri Kalugin gereist ist.«
Irina stand auf. »Damit beschäftigen wir uns später. Ich habe Domorow, oder besser gesagt seinen Sohn, ausfindig gemacht. Das Flugzeug nach Moskau geht in drei Stunden.«
Kapitel 20
A m zweiten Tag hatte Stas gesagt: »Halte durch. Übermorgen ist Sonntag. Sonntag ist arbeitsfrei.« Damit hatte Ilja in diesen ersten Tagen ein Ziel, auf das er hingearbeitet hatte. Mit jeder Karre, die er füllte, kam er diesem Ziel näher: diesem Tag der Ruhe.
Seine Hände waren wund, die Muskulatur brannte wie Feuer, und sicher hatte er wieder unter dem Soll gearbeitet, aber Brigadier Juri Schermenko rief auch an den folgenden Abenden: »Hundert Prozent, zwölf Mann.« Erst am dritten Tag bekam Ilja in der Pause mit, dass zwischendurch Urki aus dem Stollen gegenüber mit Schubkarren kamen und sie in die Loren, die die 35. Brigade zu füllen hatte, leerten. Als er Stas darauf ansprach, sagte der kurz: »Geschäfte! Überlass das Juri.«
Am Sonntag heulte die Sirene wie jeden Morgen um fünf. Nach dem Frühstück folgte der Morgenappell. Der Lagerkommandant las nach dem Zählen einige Namen vor. Kolja war dabei. Die Aufgerufenen hatten Posterlaubnis, gingen hinüber zur Verwaltungsbaracke, holten Briefe oder Päckchen ab, die aus der Heimat gekommen waren.
Obwohl es verboten war, den Sonntag auf den Schlafplätzen zu verbringen, sagte Juri zu ihm: »Geh zur Latrine und pinkele über deine Hände, so heilen die Blasen schneller ab. Und dann leg dich wieder hin. Kolja weckt dich, wenn eine Kontrolle auftauchen sollte.«
Er schlief bis zum Mittag. Anschließend unterhielt er sich mit Kolja, der neben dem Ofen saß und in einer Blechdose Wasser erhitzte. »Komm, Jungchen«, sagte der Alte freudig, »meine Tochter hat mir Tee und etwas Zucker geschickt.« Vorsichtig und in kleinen Schlucken tranken sie gemeinsam aus der Blechdose.
Ilja erfuhr, dass der gutgekleidete Häftling Sergei Domorow hieß und ein »Wor w sakone«, ein »Dieb im Gesetz«, war und die Autorität der Urki im Lager. Diese Kriminellen hatten ihren eigenen Ehrenkodex und feste Regeln, nach denen sie sich unbedingt zu richten hatten.
»Er muss mit zur Mine, aber er arbeitet nicht. Das ist gegen seine Ehre. Ein Wor w sakone arbeitet niemals für den Staat.«
Ilja fragte ihn, was Juri mit Domorow zu tun hätte.
Kolja zog einen kleinen Beutel aus seiner Tasche und drehte die grobgeschnittene Machorka in ein Stück Zeitungspapier ein.
»Bis zum letzten Sommer waren die Urki die Herren im Lager. Sie kontrollierten die Essensbaracke, das Magazin, das Lebensmittellager, und sie machten ihre Geschäfte mit den Wachmannschaften. Die Lagerleitung duldete das, denn dafür leisteten die Urki Spitzeldienste und sorgten für Ruhe innerhalb des Lagers. Aber dann kam Juri, und mit ihm Stas, Lew, Gregor und all die anderen. Sechsunddreißig Männer. Das waren auch Politische, aber eben keine Beamten, Juden, Priester, Lehrer oder Bauern, wie ich einer bin.«
Er lächelte, und seine großen Zahnlücken wurden sichtbar.
»Die waren alle in der Roten Armee gewesen. Offiziere und Soldaten, und sie hatten alle schon ein paar Jahre im Lager von Taischet hinter sich. Bei ihrer Ankunft gab es im Magazin den ersten Ärger. Wir Politischen mussten dem Urka in der Kleiderkammer Machorka geben, wenn wir gute Kleidung wollten. Und das verlangte er auch von den Neuen.«
Kolja lächelte. »Seither grinst er schief. Stas hat ihm mit einem Holzspan die Wange aufgeschlitzt.«
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