Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
gemacht. Niemand war daran interessiert, das aufzuklären, ganz im Gegenteil. Und ich glaube, dass Galina das auf ihrer Reise nach Moskau verstanden hat.«
Sie räusperte sich. »1990, als die Ausreiseerlaubnis für deine Eltern und euch Kinder eintraf, sah Galina endlich eine Chance, nach der Geige zu forschen. Sie gab Ossip alles mit, was sie aus der Zeit vor ihrer Verbannung besaß. Aus dem sicheren Westen sollte Ossip die Geige ausfindig machen. Schon wenige Wochen nach eurer Ankunft in Deutschland schrieb dein Vater, dass er einen Anwalt eingeschaltet habe. Ossip schrieb, dass der Anwalt sich an das Ministerium für Innere Angelegenheiten in Moskau gewandt habe und dass sie auf Antwort warteten. Der Brief klang optimistisch. Schließlich war damals alles im Umbruch. Kasachstan hatte wenige Wochen zuvor seine Souveränität innerhalb der Sowjetunion erklärt, und auch Russland, so schien es, veränderte sich. Galina blühte regelrecht auf. Sie sagte: ›Iljas Porträt wird, wie alle großen Schüler des Tschaikowsky-Konservatoriums, in der Galerie aufgehängt werden, und die Geige wird wieder im Besitz der Grenkos sein.‹«
Tjotja Alja nahm den letzten Schluck Tee und starrte auf den Teich, auf dessen spiegelglatter Oberfläche das Sonnenlicht tanzte.
»So hatte sie sich das vorgestellt, aber dann kam der 25. November. Wir erfuhren von Pawels Unfall erst am Abend.« Alja rollte das Teeglas zwischen ihren Handflächen, als müsse sie es neu formen. »Wir durften ihn nicht mal mehr sehen. Vom Gerüst gefallen, sagten sie, und dass sein Gesicht zertrümmert sei.« Alja stellte das Glas zur Seite und zog ihre Strickjacke über dem Bauch zusammen. »Natürlich glaubten wir das. Derartige Unfälle waren nicht selten. Aber drei Tage später kam der Brief aus Deutschland. Er war von einer deutschen Behörde und enthielt die Nachricht, dass deine Eltern kurz vor Pawel ebenfalls verunglückt waren.«
Tjotja Alja schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück und sah ihn an. »Galina war immer eine stolze und stille Frau gewesen. Ich habe nie einen Menschen so schreien hören wie sie an diesem Morgen. Zwei Jahre lebte sie noch, aber sie war nicht mehr sie selbst. Sie verfiel vor meinen Augen. Sie war immer schon dürr gewesen, aber jetzt aß sie kaum noch, war nur Haut und Knochen. Sie war fest davon überzeugt, dass alles ihre Schuld gewesen sei, und redete zum Schluss wirres Zeug. Weil sie all die Lügen über Ilja geglaubt habe, habe Gott ihr die Söhne genommen.«
Alja lehnte sich zurück. »Und jetzt auch noch Vikuscha.«
Sie strich ihm über die Wange: »Sascha, fahr nach Hause. Bitte. Nicht du auch noch.« Wieder wurden ihre Augen feucht. Sie ergriff seine Hand, sagte eindringlich: »Saschenka, man kann die Dinge nicht ungeschehen machen. Du bist der letzte Grenko. Was bedeutet ein reingewaschener Name, wenn ihn keiner mehr trägt.«
Sie saßen lange so. Endlich fragte Sascha: »Willst du denn gar nicht wissen, wer verantwortlich ist für den Tod von Onkel Pawel, meinen Eltern und Vika?«
Die Antwort war endgültig. »Nein!« Sie stand auf, nahm ihre Tasche, und gemeinsam spazierten sie die schmalen Wege zwischen den Teichen entlang.
»Dieser Domorow«, fragte Sascha vorsichtig, »weißt du, ob er noch lebt?«
Sie lachte freudlos auf. »Er müsste heute weit über neunzig sein. Nein, ich glaube nicht.« Sie blieb stehen. »Galina hat einmal gesagt, dass er die Tätowierungen der Wory w sakone trug. Mit solchen Leuten legt man sich nicht an, Sascha. Ich habe manchmal gedacht, vielleicht hat er die Geige gefunden. Es hieß, sie sei sehr wertvoll.«
Sascha nickte. »Das stimmt. Je nachdem, in welchem Zustand es ist, bekommt man heute für so ein Instrument mehrere Millionen Dollar.«
Sie schnappte nach Luft, bekreuzigte sich und wiederholte: »Mit solchen Leuten legt man sich nicht an, Sascha.«
Sie schrieb ihm ihre Adresse und Telefonnummer auf, sagte zum Abschied noch einmal eindringlich: »Fahr heim, Saschenka. Am besten heute noch.«
Als er Irinas Wohnung betrat, saß sie auf dem schmalen Balkon in der Sonne. Sie hatte ihre Knie angezogen, die Fersen der nackten Füße auf die Stuhlkante gestellt und rauchte. Auf dem Tisch lag ein Fotoapparat mit Teleobjektiv.
Sie sah das Misstrauen in seinem Blick, noch bevor sie seine scharfe Stimme hörte. »Was soll das?«, schleuderte er ihr entgegen.
»Setzen Sie sich«, sagte sie ruhig, nahm die Kamera und hielt sie ihm hin. »Sehen Sie die Bilder durch und
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