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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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ganz selbstverständlich und ging davon.
    »Über den Zaun geworfen. Verscharrt.« Die Worte fielen in ihn hinein, fielen ins Bodenlose. Der Hunger und die kräftezehrende Arbeit, das spürte er genau, würden auch ihn Schicht für Schicht entblößen, bis nur noch dieser rohe Kern übrig war, der rücksichtslos und bar jeder menschlichen Regung nichts als überleben wollte. Begonnen hatte es schon. Auf dem Transport, als er nach den anderen getreten hatte, um seinen Platz zu sichern. An dem Abend vor drei Tagen, als er das Brot, das er Rybaltschenko hatte geben wollen, gierig aufgegessen hatte. Wie lange noch, bis auch er nicht mehr von »Toten«, sondern von »über den Zaun Geworfenen« sprach? Wie lange noch, bis auch er ihnen diesen letzten Rest Menschenwürde nahm?
    Er dachte daran, wie es gewesen wäre, wenn Rybaltschenko vor einem Jahr in Moskau, als er noch nicht in Ungnade gefallen war, gestorben wäre. Es hätte eine pompöse Trauerfeier gegeben, an der auch Abgesandte des Kremls teilgenommen hätten. Moskau hätte getrauert.
    Er erschrak, als er sein eigenes bitteres Lachen hörte.
    Seine Geige. Wenn er doch wenigstens die Geige noch hätte.
    Rybaltschenko hatten sie nicht nur das Klavier genommen, sondern auch das Gehör. Das hatten sie Ilja gelassen. Warum?
    Lange starrte er über den Stacheldrahtzaun hinweg in die Dunkelheit. Nicht weit entfernt hörte er Stimmen und die Schritte von Männern, die zu ihren Baracken gingen. Vom Tor her bellte ein Hund. Wie von selbst stellten sich die Klänge ein.
    Er war noch nicht lange am Konservatorium gewesen. Rybaltschenko hatte in einem der kleinen Säle tief versunken und nur für sich gespielt. Ilja hatte wie gebannt am Eingang gestanden und sich nicht entziehen können. Es war die Klaviersonate Nummer 12 von Mozart. Nie zuvor hatte er Kraft und Lebenslust mit einer immer wiederkehrenden, zärtlichen Trauer so innig miteinander verbunden gehört. Als Rybaltschenko endete, hatte er sich davongeschlichen. Sein Spiel hatte etwas Existenzielles, etwas Nacktes gehabt, und er war sich wie ein Voyeur vorgekommen.
    Die Stimmen auf dem Lagergelände waren verebbt. Auf dem Weg zur Baracke schob er seine Hände in die Taschen. Er zog das Brot hervor und aß es auf. Und da spürte er ihn wieder, diesen Moment der Scham, für all die Brotstücke, die er Rybaltschenko nicht gegeben hatte.

Kapitel 21
    S ieben Jahre lebten sie schon in Alma-Ata. Stalin war seit vier Jahren tot, und Chruschtschow hatte ein Jahr zuvor eine Amnestie erlassen. Aivars’ Verbannung wurde aufgehoben, aber Galina behielt ihren Status, musste sich weiterhin auf der Kommandantur melden. Aivars schrieb nach Lettland, machte Verwandte ausfindig, und monatelang kämpften Heimweh und seine Liebe zu Galina und den Kindern in ihm. Sie fürchtete seine Entscheidung, aber eines Nachts zog er sie an sich und flüsterte: »Ich habe mich entschieden. Ich gehe nicht ohne euch.«
    Sie hatten die Datscha nach und nach erweitert, und die Sommerferien verbrachten die Kinder zusammen mit Lydia dort draußen. Es war ein sonniger Julisonntag, als Aivars und Galina die drei auf der Datscha besuchten. Lydia hatte einen gutgefüllten Picknickkorb gepackt, und sie gingen den viertelstündigen Fußweg an den kleinen See.
    Im Wasser musste zunächst ein breiter Streifen Schilf überwunden werden. Sie bogen die hohen, scharfkantigen Pflanzen auseinander. Ihre Füße sanken in den weichen Schlick. Dann war kein Boden mehr zu spüren, und sie schwammen hinaus. Lydia winkte ihnen vom Ufer aus zu. Galina legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Sie hörte das fröhliche Rufen ihrer Söhne, Aivars’ Lachen, das Aufspritzen von Wasser, wenn sie einander jagten. Der Tag war von außergewöhnlicher Helligkeit. Sie schloss die Augen, spürte dieses Perlen in der Brust. Dieses Glück! Später saßen sie im hohen Gras und ließen sich von der Sonne trocknen, während Lydia ihr immer wieder Brot und Wurststücke abschnitt und sie aufforderte, doch zu essen. »Du bist viel zu dünn«, schimpfte die Alte, »du siehst aus, als müssten wir immer noch hungern. In guten Zeiten muss man essen, damit man die schlechten, die immer wieder kommen, übersteht.«
    Am Nachmittag entdeckten Pawel und Ossip im Schilf ein verwittertes, halbversunkenes Boot. Aivars zog es an Land, begutachtete es, und am Abend trugen sie es über Kopf wie einen riesigen Hut zur Datscha, wo er es mit den Jungen in den nächsten Wochen wieder herrichten wollte.

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