Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Unter dem Boot klangen ihre Stimmen fremd und voll, und Galina stimmte ein Lied an.
Ein schöner Tag, der ihr im Gedächtnis bleiben würde. Sie aßen noch gemeinsam zu Abend, bevor Galina und Aivars sich auf den Heimweg machten. Als sie sich der Stadt näherten, lag die Sonne rund und rot wie ein Kürbis über den Dächern. Sie gingen Hand in Hand. Sie fühlte die Restwärme des Tages auf den nackten Armen, lauschte Aivars’ ruhiger Stimme neben sich, der die Reparatur des Bootes plante.
Auf dem Flur zu ihrer kleinen Wohnung trat ein Nachbar auf sie zu. »Da war ein Mann aus Moskau. Er wollte Sie sprechen, Galina Petrowna.«
Sie hielt Aivars’ Hand fester, spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog, und war erstaunt, wie selbstverständlich sie dachte: »Ilja! Er hat uns gefunden und jemanden geschickt.« Es war, als habe der Satz all die Jahre in ihr geschlafen. Als habe sie ihn in sich getragen und auf den Tag gewartet, an dem sie ihn aufwecken würde. Sie sah Aivars an, strich ihm zärtlich über die Wange. »Du musst dich nicht sorgen«, flüsterte sie.
Es war schon nach zehn, als es an der Wohnungstür klopfte. Ein drahtiger Mann um die fünfzig, das Gesicht verwittert, der Blick direkt. Ein kleines Nicken mit dem Kopf, dann sagte er: »Sind Sie Galina Petrowna Grenko, die Frau von Ilja Wassiljewitsch Grenko?«
Galina schluckte angestrengt, bevor sie ein leises »Ja« herausbrachte.
Er lächelte. »Sie sind tatsächlich so schön, wie er immer behauptet hat.« Dann wurde er wieder ernst. »Darf ich hereinkommen. Ich habe einen Brief für Sie.«
Sie trat zur Seite und bat ihn mit einer Handbewegung einzutreten. Er setzte sich an den Tisch, an dem schon Aivars saß. Als er Aivars die Hand entgegenstreckte, rutschte der Ärmel seines Hemdes hoch und der Ansatz einer Tätowierung wurde sichtbar.
Er stellte sich vor. »Sergei Sergejewitsch Domorow. Ich war in Workuta zusammen mit Ilja Wassiljewitsch im Lager.«
Galina lehnte an der Wohnungstür, starrte den Mann an, während die Worte »Lager« und »Workuta« durch ihren Kopf taumelten. Sie konnte sie nicht einordnen. Kantig lagen sie zwischen ihren eigenen, vertrauten Iljawörtern, Iljasätzen. »Flucht. Wien. Verrat. Er hat uns im Stich gelassen. Seine Musik war ihm wichtiger.« Und ihren Iljabildern. Wie er auf den großen Bühnen dieser Welt spielte. Die hohe Gestalt mit der geliebten Geige. Wie er versunken, Zeit und Raum vergessend, spielte. Wie er sich verbeugte. Sein jungenhaftes Lächeln.
Der Mann, der sich Sergei Sergejewitsch Domorow nannte, sprach zu ihr, aber seine Stimme erreichte sie nicht. Er nahm ein Papier aus der Brusttasche. Sie sah es. Es war gefaltet und abgegriffen. Sie hörte ihn »… vor acht Jahren geschrieben« und »… gebeten, Sie zu suchen« sagen. Ein Schwindel erfasste sie, hob ihren Körper an, schleuderte sie auf die Rückseite ihres neuen Lebens. Die längst vergessen geglaubte Zeit, diese letzten Tage in Moskau gerieten in Bewegung.
Domorow sprach weiter. »… keine Kraft mehr«, sagte er, »… sich erschießen lassen«, sagte er, und Galina lehnte immer noch an der Tür, schnappte wie eine Ertrinkende nach Luft. Dann hielt sie sich die Ohren zu und schrie: »Lügen! Wie können Sie es wagen! Lügen, alles Lügen!« Ihre Beine zitterten. Aivars sprang auf, legte den Arm um sie und führte sie zu einem Stuhl. Er holte eine Flasche Wodka, Salzgurken und Brot aus dem Schrank und stellte drei Gläser auf den Tisch. Sie sah zu, wie er reichlich Wodka eingoss und Domorow ein Glas zuschob. »Er soll gehen«, dachte sie. »Warum lädt Aivars diesen Lügner zum Trinken ein?«
Der Wodka brannte ihr in Kehle und Magen. Domorow sagte: »Ilja Wassiljewitsch hatte keine Posterlaubnis. Er hat mich damals gebeten, diesen Brief herauszuschmuggeln, aber meine Leute konnten Sie unter der Moskauer Adresse, die Ilja mir gegeben hatte, nicht finden.« Er sah Galina auf seine direkte Art an. »Wir hörten von Ihrer Verbannung. Es hieß Karaganda, aber auch dort waren Sie nicht zu finden.«
Der Wodka belebte Galina, lenkte ihre Gedanken in geordnetere Bahnen.
»Glauben Sie wirklich, man hätte mich in die Verbannung geschickt, wenn Ilja gar nicht geflohen wäre?«, schleuderte sie Domorow entgegen. »Warum hätte man das tun sollen?«
»Um die Lüge von Iljas Flucht glaubwürdig zu machen. Die Familien von Landesverrätern wurden verbannt. Es wäre merkwürdig gewesen, wenn man Sie verschont hätte«, antwortete er ruhig.
Aivars
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