Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Meschenow Bemerkungen über die Begabung und Schwächen seiner Schüler gemacht. Mehrmals hob er Iljas Eifer und seinen sehr eigenen Zugang zur Musik hervor. 1946 schrieb er: Ilja ist immer noch von großer Naivität, und mir scheint, dass es die kindliche Naivität ist, die seinem Spiel diese Leichtigkeit gibt.
Eine der letzten Notizen lautete : Ilja macht zu viele Konzertreisen. Er entfernt sich, und ich habe den Eindruck, dass ihm der Erfolg zu Kopf steigt.
Obwohl Meschenow noch bis 1954 unterrichtete, endeten die handschriftlichen Aufzeichnungen über seine Schüler 1948.
Sascha fragte Sidorkin: »Warum enden die persönlichen Aufzeichnungen hier?«
Der junge Mann antwortete wie aus der Pistole geschossen. »Meschenow wurde damals sehr krank. Er unterrichtete danach nur noch sporadisch.«
»Dieser Ilja Wassiljewitsch Grenko war offensichtlich ein sehr begabter Schüler. Was ist aus dem geworden?«, stellte Sascha sich unwissend.
Der Mann räusperte sich.
»Eine unschöne Geschichte. Grenko war tatsächlich sehr begabt und Meschenows Lieblingsschüler. Er kümmerte sich um ihn wie um einen Sohn, aber Grenko zeigte sich undankbar. Nach einem Konzert in Wien ist er nicht mehr zurückgekommen. Meschenow hat das nicht verwunden. Danach wurde er krank.«
Sascha entschied sich zu provozieren.
»Das ist ja merkwürdig. Ich beschäftige mich schon lange mit russischen Musikern, und von diesem Grenko findet man auch in Europa nur Aufzeichnungen über Konzerte bis 1948.«
Sidorkin sah ihn direkt an und sagte abweisend: »Ich habe den Auftrag, Sie mit dem Leben und Werk von Professor Michail Michajlowitsch Meschenow vertraut zu machen. Über Grenko haben wir keine Unterlagen.«
Sascha erhob sich und dankte. Der Mann stand ebenfalls auf, und als wolle er darauf hinweisen, dass er Sascha durchschaut hatte, tippte er auf den leeren Block und sagte: »Vergessen Sie Ihre Notizen nicht, Herr Dörner.«
Als sie den Flur entlanggingen, hielt Sidorkin sich dicht neben ihm und sagte flüsternd: »Sie werden es nicht glauben, aber auch wir haben Internet, Herr Dörner, und auch wir wissen, dass die Geschichte um Ilja Wassiljewitsch Grenkos Flucht so nicht stimmen kann.«
Er holte Saschas Handy und sagte leise, aber nicht ohne Stolz: »Noch kann man unbequeme Wahrheiten hier nicht immer aussprechen, aber die Zeit wird kommen.«
Kyrill lehnte am Wagen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, als Sascha das Konservatorium verließ und sein Handy wieder einschaltete.
Drei Anrufe in Abwesenheit in der letzten Viertelstunde. Alle von Reger. Vielleicht hatte er den Leihwagen und damit Vikas Notiz gefunden.
Sascha blieb auf den Stufen stehen und rief zurück.
»Wieso stellen Sie Ihr Handy ab?«, begrüßte Reger ihn.
»War der Zettel noch im Handschuhfach«, überging Sascha die Frage.
»Nein! Aber das ist auch nicht mehr wichtig«, blaffte Reger. »Sagen Sie mir lieber, mit wem Sie es da zu tun haben.«
Sascha zögerte. »Wieso? Was ist passiert?«
»Das kann ich Ihnen sagen. Vorhin erfahre ich, dass man letzte Nacht auf einem Rastplatz in der Nähe von München einen Toten gefunden hat und dass der die Waffe bei sich trug, mit der Ihre Schwester und die Frau in der Pension erschossen wurden.«
Sascha spürte Erleichterung, und gleichzeitig machte ihn diese Nachricht nervös. Domorow! Domorow hatte gesagt: Ich kann einiges für Sie tun. Hier und in Deutschland. Aber so schnell? Wenn Domorow mit dem Tod dieses Mannes zu tun hatte, dann hatte er ihn offensichtlich nicht erst suchen müssen. Dann hatte er die ganze Zeit gewusst, wer auf Vika geschossen hatte. Und das konnte doch nur bedeuten …
Reger sprach weiter.
»Der ist der Polizei auf einem Silbertablett serviert worden, und erzählen Sie mir jetzt nichts von einem glücklichen Zufall oder so einen Scheiß. Außerdem höre ich, dass auf Sie geschossen wurde.«
Sascha war mit seinen Gedanken noch bei Domorow, brauchte zwei Sekunden, bis er Regers letzten Satz begriff.
»Woher wissen Sie das?«, fragte er langsam, und seine Stimme triefte vor Misstrauen.
»Von der Bukaskina, verdammt noch mal! Die konnte ich ja wenigstens erreichen«, brüllte Reger.
Sascha fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
»Entschuldigung.« Er versuchte ein Lachen. »Ich glaube, ich werde langsam paranoid.«
Für einen Moment schwiegen sie beide.
»Kommen Sie zurück«, sagte Reger versöhnlich. »Sie wollten den Mann, der Ihre Schwester erschossen hat, und das hat sich
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