Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
sie das Zimmer verließen, rief er Domorow an. Wieder meldete sich die unverbindliche Stimme, aber diesmal wurde er sofort verbunden.
»Einen Kontakt zum Konservatorium«, bat er, »können Sie das arrangieren? Und Meschenow. Können Sie herausfinden, ob er Verwandte hat?«
Schon eine Stunde später, sie saßen zusammen mit Kyrill unten in der Bar, aßen süße Piroggen und tranken Tee, rief Domorow zurück.
»Man erwartet Sie unter dem Namen Simon Dörner im Konservatorium. Sie sind Autor und schreiben für eine deutsche Musikzeitschrift einen größeren Artikel über Meschenow«, sagte er, und Sascha nahm zur Kenntnis, dass Domorow auch über seinen falschen Pass informiert war.
»Meschenow hat eine Tochter. Sonja Michajlowna, verheiratete Kopejewa«, kam es vom anderen Ende der Leitung, »und das ist sehr interessant. Kopejew arbeitete ab 1946 im Ministerium für Staatssicherheit. Er hat auch heute noch die besten Kontakte zum FSB.« Domorow gab ihm eine Adresse durch. »Diese Tür«, sagte er abschließend, »kann ich Ihnen aber nicht öffnen.«
Kopejew! Sascha brauchte nur drei Sekunden, bis er wusste, wo er den Namen schon einmal gelesen hatte.
Kapitel 29
E s waren drei weitere Tage vergangen, in denen Ilja morgens über die schneebedeckte verbotene Zone blickte. Dieser kleine, lächerliche Funke Lebenswille, der Herr über seinen Körper war und diesen ersten Schritt sabotierte. Aber es war nicht nur das. Domorow hatte gesagt: Wenn ich etwas für dich tun kann …
An diesem Abend sprach Ilja ihn vor der Essensbaracke an. »Man sagt, dass du Post für Seki ohne Posterlaubnis weiterleiten kannst.« Seine Stimme bebte. »Einen Brief. Einen Brief an meine Frau in Moskau. Wäre das möglich?«
Domorow nickte sofort. »Schreib«, sagte er. »Ohne Adresse. Adressen nur mündlich.«
Ilja besorgte sich Papier aus der Küche. Es war nur das Etikett einer Bohnendose, aber die Rückseite konnte er benutzen. Der alte Kolja organisierte einen Kerzenstummel und einen Bleistift.
Ilja brauchte drei Abende. Er überlegte sich jedes Wort genau und schrieb so klein wie möglich. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, und die filigranen Buchstaben gerieten an manchen Stellen zittrig und ungelenk. Schon im ersten Satz steckte Abschied. Einige Zeilen später schrieb er: Mir sind zwei Finger erfroren und mit ihnen auch alle Musik in mir. Immer wieder las er den Satz, den seine Hand, so schien es ihm, ganz alleine geschrieben hatte. Er schloss die Augen, suchte noch einmal, so wie er es in der Lubjanka getan hatte, nach Tönen und Klängen in seinem Innern. Die Stille in ihm dröhnte.
Er war kein Musiker mehr.
Wenige Zeilen später bat er um Verzeihung für das, was er tun würde, und es war wohl diese niedergeschriebene Bitte, die ihn erlöste, die den Weg freimachte.
Als er den Brief unterzeichnet hatte, wanderten seine Gedanken noch einmal zu Gerschow, und die Ereignisse auf dem Transport schienen ihm jetzt hundert Jahre entfernt. Er sah vor sich, wie er versucht hatte, den Alten aus dem Waggon zu ziehen, und meinte, noch einmal den Schuss zu hören. Gerschow war als Gerschow gestorben.
Und Rybaltschenko. Rybaltschenko mit bettelnder Hand neben der Essensbaracke. Rybaltschenko war nicht als Rybaltschenko gestorben.
Nicht so!
So nicht!
Er würde den Gerschowtod wählen. Er würde als Ilja Wassiljewitsch Grenko über den Rand der Welt fallen.
Er las seinen Brief noch einmal durch. Dann faltete er die Ecken mehrmals zur Mitte. Kolja blies in die Restglut des Ofens und zündete die Kerze an.
Wachs tropfte.
Versiegelte das Papier.
Besiegelte seinen Entschluss.
Am nächsten Morgen stellte er sich auf dem Appellplatz neben Domorow, steckte ihm den Brief zu und flüsterte die Adresse.
Sergei Sergejewitsch Domorow steckte den Brief wortlos in seine Tasche. Sie waren schon auf dem Marsch zur Mine, als er sagte: »Er wird ankommen. Ich verspreche es.«
Kapitel 30
G alina brachte die zwei Stunden auf dem Vorplatz des Konservatoriums zu. Sie saß auf den Stufen zur Eingangshalle und versuchte, die neuen Informationen einzuordnen.
Sonjas Mann war bei der Staatssicherheit.
Immer wieder griff sie in ihre Handtasche und tastete nach Iljas letztem Brief. Sie würde ihn Sonja zeigen, und vielleicht konnte ihr Mann helfen.
Gleichzeitig gab es diese Unruhe in ihr. Sie meinte, sich zu erinnern, dass Sonja ihren Brief vor über zehn Jahren bereits mit Kopejewa unterschrieben hatte. Als Ilja verschwand, war sie verlobt
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