Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
blickte sie direkt an.
»Ein Zufall«, sagte ihr Verstand.
Sie stieg einige Stufen hinunter. Der Mann blieb stehen.
»Er will nichts von dir«, sagte ihr Verstand.
Die alten Bilder stürmten ungehindert auf sie ein. Der Zug, die Wagen, die schreienden Nächte. Karaganda.
Sie umklammerte den Handlauf. Sie spürte, dass die Treppenstufen und der Handlauf nicht synchron liefen. Ihr Oberkörper wurde nach und nach vornübergezogen.
»Loslassen! Nachgreifen!«, sagte ihr Verstand.
Unten fuhr die Metro ein. Das Quietschen der Bremsen hallte tausendfach wider.
Eine Hand. Ein fester Griff an ihrem Unterarm. Sein Atem in ihrem Nacken. Seine Stimme. »Lassen Sie doch los. Lassen Sie sofort den Handlauf los …«
Nein! Nein! Nicht noch einmal!
Sie machte eine halbe Drehung, versuchte die fremde Hand abzuschütteln. Dann verlor sie endgültig das Gleichgewicht.
Kapitel 31
N jet!« Wieder hob Kyrill abwehrend die Hand, als Irina sich erhob, um Sascha ins Konservatorium zu begleiten. Sie lachte bitter, protestierte aber nicht weiter. Stattdessen sagte sie zu Sascha: »Ich weiß sowieso nicht, was du dir davon versprichst. Die werden die offizielle Lesart präsentieren und sonst gar nichts.«
Im Konservatorium wurde Sascha von einem jungen Mann mit gepflegtem Bart empfangen. Er hieß Sidorkin und verbreitete eine nervöse Unruhe.
»Ein Artikel über das Leben und Werk Meschenows in Deutschland«, sagte er, »selbstverständlich wird das Konservatorium alles tun, um behilflich zu sein.«
Er führte ihn in ein Seitengebäude und erklärte auf dem Weg, dass es ein Archiv gäbe, für das er zuständig sei. Sie betraten einen Flur, und er räusperte sich verlegen. »Es ist leider nicht erlaubt, dass Sie Ihr Handy mit hinunternehmen«, lächelte er entschuldigend.
Sascha sah ihn skeptisch an. »Aber es wäre doch das Einfachste, wenn ich die Unterlagen abfotografiere.«
Sidorkins Lächeln erfror. »O nein, das geht auf keinen Fall. Es tut mir leid, aber Sie müssen Ihr Handy abgeben.«
Sascha gab ihm sein Telefon, zog es dann aber noch einmal zurück und schaltete es ab. Der junge Mann brachte es in ein Büro, kam mit einem Block und einem Kugelschreiber zurück.
»Für Ihre Notizen«, sagte er freundlich. Der Raum lag im Souterrain, war langgestreckt, und an den Wänden zogen sich Regale voller Ordner und sorgfältig beschrifteter Kartons hin. Auf einem Tisch hatte Sidorkin bereits alles über Meschenow zusammengestellt.
Es gab vier Ordner und zwei Kartons.
Der junge Mann bat ihn, Platz zu nehmen, und setzte sich dazu.
Sascha sagte freundlich: »Sie müssen aber nicht die ganze Zeit hierbleiben. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn ich fertig bin.«
»Oh, kein Problem. Ich werde Sie mit all meinem Wissen unterstützen.« Er lächelte verbindlich, öffnete den ersten Ordner und schob ihn Sascha zu.
Er war mit Notenblättern gefüllt, die handgeschriebene Kompositionen von Meschenow enthielten. Sascha hatte davon keine Ahnung, blätterte sie aber gewissenhaft durch. In dem zweiten Ordner befanden sich Aufsätze und Aufzeichnungen aus Vorlesungen. Sascha bemühte sich, sein Desinteresse nicht zu zeigen.
In den Kartons fand er Notizbücher, Zeitungsausschnitte und diverse Fotos. Auf der Rückseite der Bilder waren Datum und die Namen der abgebildeten Personen vermerkt. Er fand ein Bild, das Meschenow mit vier Jungen zeigte. Auf der Rückseite stand 1933 und an dritter Stelle der Name: Ilja Wassiljewitsch Grenko. Da war er dreizehn Jahre alt gewesen.
Ein anderes zeigte Saschas Großvater mit sechzehn auf einer Bühne. Meschenow neben ihm, den Arm väterlich um Iljas Schulter gelegt. Es gab viele Fotos der beiden und ebenso diverse Zeitungsartikel. Die Zeitungen sprachen zunächst von Meschenow und seinem begabten Schüler, aber die Artikel veränderten sich. Schon 1938 lautete eine Bildunterschrift: Ilja Wassiljewitsch Grenko mit seinem Lehrer. Und einige Jahre später feierten die Zeitungen den Schüler Grenko, und Meschenow war nur noch eine Randnotiz.
Er fand auch ein Foto von Meschenow zusammen mit dem Pianisten Rybaltschenko. Sascha dachte an Irina und dass sie dieses Bild vielleicht gerne gesehen hätte.
Das letzte interessante Bild war 1952 aufgenommen. Der Rückseite entnahm er, dass es Meschenow mit Tochter und Schwiegersohn zeigte. Das also war Kopejew. Er wirkte freundlich und unscheinbar, und Sascha musste an einen Versicherungsvertreter oder Verkäufer im Möbelhaus denken.
In den Notizheften hatte
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