Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
erledigt.«
»Er war der Schütze«, antwortete Sascha, »aber die Fäden laufen hier zusammen.«
Wieder brüllte Reger los. »Natürlich laufen die Fäden da zusammen, aber was glauben Sie denn, wer Sie sind? Die schnippen doch nur mit dem Finger, wenn Sie denen in die Quere kommen.«
Während Reger weiterschimpfte, dachte Sascha: Meschenows Tochter. Mit Sonja Michajlowna Kopejewa musste er auf jeden Fall noch sprechen. Kopejew, dieser Name hatte unter dem Antwortschreiben des Innenministeriums gestanden. Das konnte kein Zufall sein.
Dann fiel ihm ein, was er Reger noch fragen wollte.
»Dmitri Kalugin«, fragte er. »Haben Sie etwas über ihn herausgefunden?«
»Aussiedler, genau wie Sie. Arbeitet als Übersetzer. Mehr gibt es über ihn nicht.«
»Ein oder zwei Tage noch«, wechselte Sascha das Thema, »dann bin ich zurück.«
Kyrill lehnte geduldig mit verschränkten Armen am Auto und wartete.
Sascha sah auf die Uhr. Es war bereits nach Mittag. Er reichte Kyrill den Zettel, auf dem er sich Kopejews Adresse notiert hatte.
»Können Sie mich da hinbringen?«
Kyrill betrachtete die Notiz.
»Das ist weit«, sagte er auf seine brummige Art, griff zum Handy und besprach Saschas Wunsch mit Domorow. Sascha dachte an den Originalbrief, den er immer noch im Schuh trug. Dieses fünfzig Jahre alte Dosenetikett war seine Lebensversicherung.
Kyrill setzte sich in den Wagen und gab die Anschrift in das Navigationssystem ein. »Anderthalb Stunden«, brummte er.
Kapitel 32
A m 23. Januar 1949 aß Ilja morgens von dem harten Brot. Seit Wochen bestand die morgendliche Essensration aus einer Tasse dünnem Tee und diesen immer kleiner werdenden Brotstücken. Er dachte daran, es Stas zuzuschieben, überlegte es sich dann aber anders. Nicht weil er es selbst essen wollte, sondern weil er fürchtete, Stas würde seine Absicht erkennen und versuchen, ihn abzuhalten.
Als die Sirene sie auf den Appellplatz rief, ließ er sich Zeit, lehnte sich an die Essensbaracke und spürte dieselbe Entschlossenheit, mit der er in einem weit zurückliegenden Leben die Bühnen der Konzertsäle betreten hatte.
Am Tag zuvor hatte er Domorow den Brief übergeben.
Er atmete die kalte Morgenluft ein und starrte in den noch dunklen Himmel, der am Horizont einem bleichen, farblosen Tag Platz machte.
Diesmal war sein Körper einverstanden. Mühelos, fast leicht ging er an den Baracken vorbei, sah die Männer aufgestellt in Reihen, frierend und wartend. Als er den Platz erreichte, trugen seine Füße ihn ganz selbstverständlich und ohne Eile nach rechts, auf die verbotene Zone zu. Er hörte die Rufe der Wachleute und war für einen Moment überrascht, dass es genau so war, wie er es sich vorgestellt hatte.
»Stehen bleiben«, hörte er, »bleib stehen.«
Und so wie er in der Musik der Stille zwischen den Tönen nachlauschte und gleichzeitig den nächsten erwartete, der ihn dann doch überraschte, hörte er mit Erstaunen den ersten Schuss. Wie in seinen Konzerten spürte er diese Leichtigkeit, die ihn anhob, ihn vorantrieb, dem nächsten Klang entgegen.
Seine Beine liefen jetzt von ganz alleine. Die Rufe, weitere Schüsse, der dünne Tag am Horizont, der nicht mehr seiner sein würde. Alles von erstaunlicher Klarheit.
Ein Schmerz im Rücken.
Er taumelte.
Weiter. Weiter.
Der Zaun.
Immer auf den Zaun zu.
Jemand rief seinen Namen.
Stas? Galina? Schermenko? Meschenow?
Gesichter fielen ineinander.
Weiter. Weiter.
Immer auf den Zaun zu.
Und dann – hindurch!
Einen Monat später übergab die Bürgerin Larissa, die an der Mine für den Lastenaufzug verantwortlich war, Domorow einen Brief. Er erkannte ihn.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht zu finden«, flüsterte sie.
Kapitel 33
S ie verließen Moskau in Richtung Podolsk. Die Straßen waren schlecht, und Sascha war froh, dass Kyrill diesen gutgefederten Volvo fuhr. Links und rechts der Straße zeigten sich immer wieder Ansammlungen von Wohnblocks, die verwahrlost und gleichzeitig wie unfertig auf Sandhügeln standen, so als sei man vor dreißig Jahren gestört worden und nicht mehr dazu gekommen, Straßen und Bepflanzungen anzulegen. Manchmal fehlte gar der Verputz auf dem Mauerwerk.
Sascha versuchte es im Plauderton. »In Deutschland hat man den Mörder meiner Schwester tot aufgefunden«, sagte er so beiläufig, wie er konnte.
Kyrill blickte stur geradeaus. »Das ist doch gut für Sie, oder?«
»Ja, das ist gut für mich, aber es erstaunt mich sehr.«
Gut zehn Kilometer weiter
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