Der Geisterfahrer
neigte ihren Kopf ein bisschen und sagte mit leiser, hoher Stimme: »Sha Mun.« Endlich! Sie hatte gesprochen! Wenigstens ein Name. Dann fuhr ich fort, zeigte nach draußen und sagte: »Zürich. Wir sind in Zürich. Und woher kommt Sha Mun?« Ihr Blick nahm nun etwas Schmerzliches an, als
sie den Kopf schüttelte. »Schon gut«, sagte ich und stand auf, und sogleich stand sie auch auf, neigte ihren Oberkörper ein bisschen und verließ dann die Küche. »Sha Mun!«, rief ich ihr nach, und sie blieb stehen. »Ich, George, bin oben«, sagte ich, indem ich zuerst auf mich zeigte und dann auf den oberen Stock, »einfach falls Sie etwas brauchen, ja?« Sie verneigte sich nochmals und ging dann in ihr Zimmer.
Ich suchte wieder mein Arbeitszimmer auf, legte mich einen Moment hin und musste tief eingeschlafen sein, denn als es klopfte, stand meine jüngere Tochter im Zimmer und fragte, ob die Frau noch da sei. Ja, sagte ich, ich glaube schon, und erzählte ihr von unserm Mittagessen und dass sie mir ihren Namen gesagt habe. Darauf erklärte Barbara, sie würde heute auf keinen Fall in ihrem Zimmer übernachten, das neben dem Wäsche- und Gästezimmer liegt. Schon gut, sagte ich, sie könne ja bei ihrer Mutter schlafen, und ich würde nach oben ziehen. Nein, sagte Barbara fast hysterisch, ich müsse auch unten bleiben, ich könne ja in ihrem Zimmer übernachten. Ich bat sie, sich zu beruhigen, da ich nicht annähme, dass diese Frau für uns eine Bedrohung sei. Nun kamen, fast gleichzeitig, Anna und meine Frau nach Hause, und auch sie stiegen, bevor sie die Wohnung betraten, in den oberen Stock, und da waren wir nun versammelt, die ganze Familie, Barbara saß auf einem Lederpuffer, meine Frau setzte sich auf mein Bett, und Anna lehnte sich an einen Fenstersims.
Ich erzählte nochmals für alle, was in ihrer Abwesenheit passiert war und dass noch niemand sonst etwas erfahren hatte, auch Frau Jucker im unteren Stock nicht, und
ihr Mann sei ohnehin auf einer Geschäftsreise. Ich vergaß nicht, meine Inspektion des Kellergeschosses und der Waschmaschine zu erwähnen und dass es für mich keine Erklärung gab, wie die Frau in das Haus hineingekommen sein könnte.
Wieso wir nicht einfach die Polizei anriefen, fragte Anna, und ich war geneigt dem zuzustimmen.
Meine Frau gab zu bedenken, dass sie gelegentlich für die Polizei Gutachten über jugendliche Straftäter schreibe und dass man sie dort als unseriös ansehen könnte, wenn sie mit solch einem Problem daherkomme.
»Wieso unseriös?«, fragte Barbara, »diese Frau gibt es doch.«
»Es sieht zwar so aus«, sagte meine Frau, »aber vielleicht spukt es einfach bei uns, und die Gestalt ist morgen früh genau so verschwunden, wie sie aufgetaucht ist.«
»Iiiih!«, rief Barbara, »ich bekomme Gänsehaut!«
Ich fragte meine Frau, ob sie schon von Erscheinungen gehört habe, die essen und trinken, und sie antwortete, dass sie sich bis jetzt kaum mit Erscheinungen befasst habe, dass sie aber wisse, dass diese den Menschen meistens völlig real vorkämen und sie sich erst im Nachhinein fragten, ob sie etwas Wirkliches oder etwas Unwirkliches erlebt hätten.
Barbara gab nun sehr entschieden bekannt, dass sie niemals in ihrem Zimmer bleibe, und wir einigten uns darauf, dass sie im Elternschlafzimmer übernachte und ich in ihrem Zimmer, damit ich in der Wohnung wäre, wenn etwas Ungemütliches passieren würde.
Anna war froh über ihren Raum im oberen Stock.
»Aber was sollen wir denn nun tun?«, fragte meine Frau, »hat niemand eine Idee?«
»Wir müssten herausfinden, welche Sprache sie spricht, dann könnte sie uns auch sagen, woher sie kommt«, sagte Anna.
Das wäre, so fanden wir alle, ein wichtiger Schritt, ich holte meinen Atlas aus dem Regal, und wir schlugen Asien auf und begannen Gegenden herauszuschreiben, von Kasachstan über Kirgisien bis zu Tibet, Gobi und der Mandschurei. Ich erinnerte mich auch an das kleine Volk der Tschuktschen in Sibirien, da ich einmal ein Buch von Juri Rychtëu besprochen hatte.
Anna legte eine Liste der möglichen Regionen an, denen die Frau ihrem Aussehen nach entstammen könnte, ich holte ein Taschenbuch über Sprachen aus meiner Bibliothek, dem ich entnahm, dass in Asien 153 Sprachen existierten, und begann Barbara eine Liste von Idiomen zu diktieren, die infrage kämen, aserbeidschanisch, uigurisch, usbekisch, dagestanisch, tscherkessisch, grusinisch, samojedisch, burjatisch, kalmückisch, und ich wunderte mich, von wie vielen
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