Der Geisterfahrer
sah man auf den ersten Blick, passten ihr genau auf den Leib, auch die Mütze war für ihre Kopfgröße berechnet, und mit dem Umhang sah sie aus wie die Prinzessin eines fernen Königreiches.
Wir alle waren zwischen Bewunderung und Grauen hin und her gerissen, aber meine Frau, die das fünfte Gedeck bemerkt hatte, bat sie schließlich, Platz zu nehmen, und goss ihr einen Tee auf. Wir waren so erleichtert, als sie ihn annahm, dass auch wir zum Tee übergingen, obwohl unser obligatorischer Morgenkaffee schon in der Kanne bereit war. Als unsere Töchter ihre Corn Flakes zur Hälfte gegessen hatten und die Küche verließen, folgte ich ihnen in den Korridor und bat sie, in der Schule nichts von unserem Gast zu erzählen.
Sie versprachen es, und bevor meine Frau zur Arbeit musste, besprachen wir uns kurz. Wir kamen überein, der Fremden das Wäschezimmer als Gästezimmer zurechtzumachen, etwas, das wir auch sonst tun, wenn Besuch kommt. Ich befreite das Sofa, das dort steht, von der darauf liegenden Wäsche, die ich in die verschiedenen Zimmer verteilte, und meine Frau bezog das Bett. Sie kam in die Küche zurück mit Wasch- und Frottiertüchern auf
dem Arm, aber unser Gast hatte offensichtlich keine Lust, aufzustehen und sich Badezimmer und Toilette zeigen zu lassen. Wir hatten mittlerweile alle Sprachen ausprobiert, von buenos dias bis nitschewo, und da sie keine in irgendeiner Weise zu erkennen schien, gingen wir wieder zu unserer Muttersprache über, und meine Frau verabschiedete sich auf schweizerdeutsch von der Fremden. Sie arbeitet als Schulpsychologin und hatte an diesem Vormittag eine Sitzung, bei der es um Zuweisungen in Sonderklassen ging, ein Fernbleiben kam nicht infrage. Ich hingegen bin freischaffender Literatur- und Kulturkritiker, und es war klar, dass ich die Fremde zu hüten hatte.
Es gehört zum Elend des Freischaffenden, dass er oft zu Hause ist, wenn unerwartete Besuche kommen. »Wie schön, dass du da bist!«, rufen sie dann aus, und im Glauben, man freue sich über ihr Erscheinen, beginnen sie einem rücksichtslos die Zeit wegzufressen. Sie können sich nicht vorstellen, dass man zu Hause ebenso diszipliniert arbeiten muss wie in einem Büro. Aber mit Besuchen, die einen kennen, kann man wenigstens reden und ihnen klarzumachen versuchen, dass der Artikel bis um 17 Uhr abgeliefert sein muss. Hier war jedoch etwas ganz anderes. Da war ein Mensch aufgetaucht unter rätselhaften Umständen, vertraut mit nichts und niemandem, der musste betreut werden.
Erst als meine Frau etwas verstört gegangen war, merkte ich, dass ich unter einem Schock stand; meine Knie waren schwach, meine Hände zitterten, und meine Stimme versagte. Ich blieb also so lang wie möglich sitzen und trank mit der Fremden Tee. Dann stand ich vorsichtig auf, bat
sie, mir zu folgen, damit ich ihr die Wohnung und ihr Zimmer zeigen konnte. Das gelang mir tatsächlich, sie verstand ohne Weiteres, welcher Raum ihr zugedacht war, und ich zog mich schließlich in mein Arbeitszimmer zurück, das, zusammen mit dem Arbeitszimmer meiner Frau und Annas Zimmer, im oberen Stock liegt.
Es wird niemanden wundern, wenn ich sage, dass ich mich überhaupt nicht konzentrieren konnte. Es galt, eine Gesamtwürdigung von Jacques Derrida zu Ende zu bringen, dem französischen Dekonstruktivisten, und ich war beim Versuch stehen geblieben, seine Differenztheorie in ein paar einleuchtenden Sätzen zusammenzufassen. Doch alles, was ich denken konnte, war: Wer war die Frau? Woher kam sie? Auf welchem Weg kamen ihre Kleider und sie selbst in unsere Waschküche? War es eine Einbildung, der wir in einer Art kollektiven Wahns erlagen?
Vorsichtig ging ich nach einer Weile wieder die Treppe hinunter, schlich mich vor die Tür des Gastzimmers und lauschte. Drinnen wurde eine Melodie gesummt, eine Melodie, die vor allem um einen Ton kreiste. Ich ging zurück in mein Arbeitszimmer, setzte mich vor mein Notebook und beschloss weiterzuarbeiten, als ob nichts wäre. Die räumliche Trennung zwischen meinem Büro und der Familienwohnung ist einer der großen Vorzüge des Hauses, das wir bewohnen, der Gang die Treppe hoch genügt mir gewöhnlich, um die Fragen und Probleme des Alltags zurückzulassen und mich in meine Arbeit zu vertiefen. Ich stelle dann den Telefonbeantworter ein und bin ganz dort, wohin mich meine jeweilige Aufgabe führt.
Diesmal aber war es anders. Obwohl über die Hälfte
des Artikels geschrieben war und ich mich bei Derrida einigermaßen auskenne,
Weitere Kostenlose Bücher