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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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Sprachen ich noch nie etwas gehört hatte, etwa vom Rutulischen, vom Kubatschinischen, vom Dachurischen oder vom offenbar schriftlosen Bur-u-schaski, das in der Bergwildnis von Nunza und Nagar an der Nordwestgrenze von Kaschmir gesprochen wird.
    Als nun kurz nacheinander die Handies der Töchter klingelten, baten wir sie, nichts von unserem Gast zu erzählen, Anna zog sich in ihr Zimmer zurück, und Barbara fragte, ob sie im Arbeitszimmer ihrer Mutter telefonieren dürfe, was diese ihr auch erlaubte.

    Als wir allein waren, fragte ich meine Frau, ob sie es wirklich für möglich halte, dass es sich um eine Erscheinung handle, und woher denn eine solche überhaupt kommen könnte. Erika antwortete, sie wisse nur, dass zum Beispiel Klopfgeistphänomene häufig in der Umgebung pubertierender Mädchen auftauchten und dass sie sogar einmal mit einem solchen Fall zu tun gehabt habe. Erst als es gelungen sei, die Spannungen des Mädchens abzubauen, sei das nächtliche Pochen an Türen wieder verschwunden.
    Ob das hieße, dass wir Barbara diesen Besuch zu verdanken hätten, fragte ich.
    Meine Frau zuckte die Achseln. Das wisse sie nicht, es sei ihr einfach in den Sinn gekommen.
    Aber zwischen einem Klopfen an einer Türe und einer leibhaftigen Asiatin, die sogar ihre Kleider vorausschicke, sei doch ein Unterschied, sagte ich.
    Natürlich, sagte meine Frau, sie könne sich das in gar keiner Weise erklären und sie finde es zum Verrücktwerden, dass wir auf einmal mit etwas konfrontiert seien, das es gar nicht gebe, und zwar wir alle vier.
    Wer immer von uns später an der geschlossenen Tür unseres Gästezimmers vorbeiging, hielt einen Moment lauschend inne, aber von drinnen war nie etwas zu hören. Das weckte in mir die Hoffnung, die Fremde könne wieder verschwunden sein. Meine Frau holte zum Nachtessen Kabeljaufilets aus dem Tiefkühlfach, und beide Töchter standen ihr ungewöhnlich hilfsbereit zur Seite, schnetzelten Gemüse klein für den Wok, deckten den Tisch für fünf, auch ich hielt mich schon in der Familienwohnung
auf, fragte die Mädchen nach ihrem Tag in der Schule, aber es wollte sich kein rechtes Gespräch entwickeln, es war klar, dass es heute nur ein Thema gab, und das war das Wesen in unserem Wäschezimmer, auf das wir alle mit großer Spannung warteten.
    Als das Essen bereit war, anerbot sich meine Frau, unsern Gast zu holen. Sie ging zur Tür, klopfte und rief: »Sha Mun! Wir können essen!« Sogleich öffnete sich die Tür, die Fremde, die immer noch ihr schwarzes Kleid mit den lila Mäandern trug, wenn auch ohne den Umhang und die Mütze, verneigte sich leicht, und Erika bat sie mit einer einladenden Geste in die Wohnküche. Sie zögerte nicht, setzte sich mit einer Verbeugung neben Anna, die sich ebenfalls verbeugte, und als meine Frau das Essen auf die Teller geschöpft hatte, wünschten wir uns gegenseitig »e Guete« und begannen zu essen. Sha Mun aß mit leichter Verzögerung mit, sie beobachtete genau, wie wir die Fischstücke mit zwei Gabeln zerkleinerten, und tat es uns gleich.
    Selten war es an unserm Tisch so ruhig gewesen wie jetzt. Meine Frau und ich, die wir sonst oft wegen des Geplauders der Mädchen kaum zu Wort kamen, wussten nicht, was wir uns sagen sollten, und die Mädchen schaufelten das Essen stumm in sich hinein, indem sie manchmal mit einem schnellen Blick die Fremde musterten, die auch keinen Ton von sich gab.
    Einmal spießte ich ein Fischstück auf meine Gabel, zeigte es Sha Mun und sagte: »Fisch.« Gerne hätte ich gehört, wie das Wort für Fisch in ihrer Sprache lautete, aber Sha Mun nickte nur und aß wortlos weiter.

    Nach dem Essen machte meine Frau einen Kräutertee, und wir setzten uns alle ins Wohnzimmer, wo ich einen Atlas bereitgelegt hatte. Ich schlug ihn bei der Weltübersicht auf und zeigte mit einem Bleistift auf das winzige Fleckchen, das die Schweiz bezeichnete. »Zürich«, sagte ich zu Sha Mun, »hier sind wir. Zürich in der Schweiz. Und woher kommst du?« Ich überreichte ihr den Bleistift, den sie mir aber in höchster Verlegenheit sogleich wieder zurückgab.
    »Lass mich mal«, sagte Anna, nahm den Bleistift und zeigte auf die Mongolei.
    »Kommst du aus der Mongolei?«, fragte sie. Als Sha Mun nicht reagierte, richtete sie die Bleistiftspitze auf Tibet. »Tibet?« Keine Reaktion. »Himalaja? Sibirien?« Aber offensichtlich sagten die Atlasbilder unserm Gast überhaupt nichts.
    Nun nahm ich die Liste hervor, die wir am Nachmittag zusammengestellt hatten,

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