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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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irgendeine Beschäftigung gab. Sie konnte doch nicht einfach den ganzen Tag tatenlos in ihrem Zimmer verbringen. Schließlich ging ich zum Schrank im Wohnzimmer und holte die großen Zeichnungspapiere heraus, die dort unbenutzt lagen, seit die Töchter keine Kinder mehr waren. Es waren auch genügend Farbstifte dabei, und ich machte alles auf dem Stubentisch bereit. Dann rief ich Sha Mun und sagte ihr, sie könne sich ohne Weiteres auch hier aufhalten, und wenn sie etwas zeichnen wolle, finde sie da alles Nötige. Da sie außerordentlich verwundert dreinblickte, nahm ich einen blauen Farbstift, skizzierte damit ein paar Schneeberge, zeichnete mit schwarz einige Vögel, die ich aus jeweils zwei Bögen und einem schwarzen Punkt zusammensetzte, und zog mit einem dunkelblauen Stift drei, vier schnelle Striche, die als Himmel gelten konnten. »Vielleicht
magst du irgend so etwas zeichnen?« Ich wollte das Blatt wegziehen, doch da legte Sha Mun ihre Hand darauf und schaute mich bittend an.
    Na na, sagte ich, so gut sei das nun auch wieder nicht, aber sie könne es gern behalten. Und jetzt, sagte ich, gehe ich nach oben. Wenn sie etwas brauche, solle sie kommen.
    Als ich aufstand und an ihr vorbeiging, streifte mich der Duft ihres Kleides, der nun auch ihr eigener war.
    In meinem Arbeitszimmer setzte ich mich vor mein Notebook und versuchte mich wieder in die Welt von Jacques Derrida zu vertiefen, aber ich merkte bald, dass meine Gedanken mir nicht folgten, sondern mir wie junge Hunde davonliefen und den fremden Gast im unteren Stock beschnupperten und anbellten. Ich schlug die Zeitung auf, deren Kulturredaktorin mich gestern angerufen hatte, und sah, dass sie meinem Tipp gefolgt war. Der Artikel über Bobbio war von dem Romanisten geschrieben worden, den ich empfohlen hatte. Er war kenntnisreich und enthielt Wesentliches, was es zu diesem streitbaren Staatsphilosophen zu sagen gab, trotzdem erschien er mir irgendwie unkühn und flügellahm, was hieß schon »Demokratischer Realist mit Utopien«? Vielleicht war es aber bloß die Eifersucht, dass mein Name nicht dabei stand, und die leise Angst, die Kulturredaktorin könnte auch in Zukunft statt meiner den jungen Kollegen fragen.
    Immerhin fühlte ich mich angespornt, zu meiner eigenen Arbeit zurückzukehren, und ich nahm mir vor, wie ein Handwerker weiterzuarbeiten, der ja auch nicht auf seine persönlichen Probleme und Stimmungen Rücksicht nehmen kann. Ich versuchte zwei verschiedene Zusammenfassungen,
druckte sie aus und las sie durch. Mit keiner war ich zufrieden.
    Am Mittag kam Erika nach Hause und schob Fertig-Lasagne in den Backofen, die sie auf dem Heimweg gekauft hatte. Dann kam sie zu mir hoch, fragte, wie es gegangen sei, und ich erzählte ihr von meinem Beschäftigungsvorschlag für unsern Gast. Wir gingen beide die Treppe hinunter in die Wohnung. Sha Mun war nicht mehr im Wohnzimmer, man hörte ihr leises Summen aus dem Wäschezimmer. Auf dem Stubentisch lag meine Zeichnung von heute Morgen, allerdings mit einer Änderung. Über den Bergen stand eine große, schwarze Sonne. Das Schwarz war so intensiv, dass der Farbstift, der noch daneben lag, vollkommen abgestumpft war.
    Das Mittagessen verlief nicht anders als die bisherigen Mahlzeiten. Sha Mun aß höflich, aber unbeteiligt mit, und es war ihr kein Laut zu entlocken. Als wir uns nachher mit einem Tee ins Wohnzimmer setzten, zeigte ich auf ihre Zeichnung und sagte: »Schön!« Sie nickte fast unmerklich. Dann zeigte ich auf die schwarze Kugel und fragte: »Sonne?« Sie schaute uns an und antwortete dann mit einem Satz, der klang wie »Tsa merjäd ko-o jalsap.« Ich schrieb ihn sofort auf, was mir umso wichtiger schien, als sie danach gar nichts mehr sagte.
    Auf wann sich der Waschmaschinenmonteur angesagt habe, fragte meine Frau, und ich sagte, auf den Nachmittag. Da sei sie leider nicht da. »Weiß ich«, sagte ich, »ich bin ja da.« »Tut mir leid«, sagte sie. »Schon recht«, sagte ich. Sie überlege sich übrigens, fügte sie hinzu, ob sie einen Kollegen anrufen solle, den sie noch aus der Studienzeit
kenne und der ab und zu etwas über parapsychologische Phänomene publiziere. Ich bat sie, doch noch etwas zu warten, denn wenn sie ihn anrufe, müsse sie ja auch sagen, weshalb. Das wisse sie, sagte sie seufzend, aber es belaste sie eben mehr, als sie angenommen habe, und sie frage sich, ob wir nicht etwas unternehmen sollten, bevor wir von der Unwirklichkeit erschlagen würden.
    Ich sagte ihr, dass ich

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