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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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momentan nicht das Gefühl habe, von unserm Gast gehe irgendeine Gefahr aus. »Nicht von ihr als Person«, meinte meine Frau, »sondern von der Tatsache, dass sie da ist, und von der Art, wie sie aufgetaucht ist. Sie greift unsere Vernunft an, verstehst du?« Da musste ich ihr allerdings recht geben, dennoch war sie bereit, den Anruf erst morgen zu machen und heute noch die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten. Wenn es mir recht sei, bot sie an, werde sie die Haushalthilfe für morgen abbestellen, ohne genaue Erklärung. Es war mir sehr recht.
    Als sie zur Arbeit gegangen war, spitzte ich den schwarzen Farbstift neu und fragte Sha Mun, ob sie weiterzeichnen wolle. Ich legte ihr auch demonstrativ neue Blätter hin, und sie nickte. Dann sagte ich ihr wieder, dass ich oben sei, und ließ sie im Wohnzimmer allein.
    Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schaute mir den Satz an, den ich heute von ihr gehört hatte: Tsa merjäd ko-o jalsap. Ich erinnerte mich daran, dass der amerikanische Linguist und Sprachphilosoph Noam Chomsky in seinen Seminarien jeweils Texte unbekannter Sprachen vorgelegt hatte, welche seine Studenten dann übersetzen mussten. Ich hatte, im Gegensatz zu den Studenten, immerhin ein paar Anhaltspunkte, kannte ich doch die Person,
die den Satz gesagt hatte, und die Umstände, unter denen er fiel. Vielleicht hieß eines dieser Wörter Sonne, ein anderes schwarz. Aber ein bisschen wenig war es schon für eine Übersetzungsübung. Es könnte ebenso heißen: Ich habe ein Bild gemalt.
    Ich gab die vier Wörter einzeln als Suchbegriffe im Internet ein, aber für keines gab es einen Eintrag. Während ich darüber nachdachte, wem ich diesen Satz zur Dechiffrierung vorlegen konnte, klingelte der Waschmaschinenmonteur. Ich ging mit ihm in den Keller hinunter und musste mir, woran ich vorher gar nicht gedacht hatte, einen Schaden einfallen lassen, behauptete dann, die Maschine hätte ein paarmal Ausfälle gehabt, nach denen man sie neu hätte in Gang setzen müssen. Das sei seltsam, murmelte er und überprüfte die Verkabelungen sowie das Steuerungsteil. Es sei höchstens möglich, dass mit dem Chip etwas nicht in Ordnung sei, doch leider sei dieses Modell schon zu alt, um ihn auszuwechseln. Wir könnten die Maschine einfach auf Zusehen weiterbrauchen, bis sie zusammenbreche, aber eigentlich würde er uns die Anschaffung einer neuen empfehlen, und da sie dieser Tage noch eine Aktion am Laufen hätten, wäre er sogar in der Lage, uns den Nachfolgetyp unserer Maschine bereits morgen zu bringen und einzurichten, unter Mitnahme der alten selbstverständlich.
    Ohne wie sonst in solchen Fällen die Rückkehr meiner Frau abzuwarten, sagte ich zu und unterschrieb sogleich den Bestellschein. Der Monteur verabschiedete sich und sagte sein Kommen für den morgigen Nachmittag an.
    Beim Hinaufgehen läutete ich bei Frau Jucker, um ihr mitzuteilen, dass morgen Nachmittag die Waschmaschine
ausgewechselt werde. Sie wunderte sich darüber, sie hätte doch einwandfrei funktioniert. Die Firma, sagte ich, habe darauf hingewiesen, dass unser Modell nicht mehr reparierbar sei, wenn ihm etwas fehlen würde, und habe ein sehr günstiges Angebot gemacht, auf das wir eingegangen seien. Hoffentlich könne sie die neue dann bedienen, sagte sie seufzend, das neue Zeug sei ja immer komplizierter als das alte. Gemeinsam würden wir das schon schaffen, sagte ich aufmunternd zu ihr, und sie solle ruhig noch waschen bis morgen Mittag, wir bräuchten die Maschine nicht mehr.
    Als ich die Familienwohnung betrat, um mir einen Tee zu machen, saß Sha Mun am Tisch im Wohnzimmer und schaute erschreckt auf. Vor ihr lag ein großes weißes Blatt mit einer großen schwarzen Sonne. Wieder war der schwarze Farbstift ganz abgebraucht. Ich sagte anerkennend zu ihr: »Tsa merjäd ko-o jalsap.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte, und ich zeigte ihr, wie man mit dem Bleistiftspitzer umgeht, und ermunterte sie zu seinem Gebrauch.
    Dann stieg ich wieder in mein Arbeitszimmer und machte mich geradezu wütend hinter meinen Artikel. Auf einmal fand ich eine Formulierung um die andere. Derridas Philosophie, die dem Singulären und Regelsprengenden eine so zentrale Bedeutung einräumt, kam mir fast selbstverständlich vor, und ich pries die Zerstörung der Idee der Vernunft als Befreiung, ja als zweite Aufklärung. Die Wahrheit, schrieb ich, müsse gerade dann anerkannt werden, wenn sie unlogisch sei, wenn sie ihre begrifflichen Gefäße sprenge, und die

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