Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
Vom Netzwerk:
dazu gemeint habe, wollten meine Töchter wissen. So etwas sei ein ganz seltener Fall, sagte meine Frau. »Nicht möglich!«, kicherte Barbara, und Anna sagte, das hätte sie auch ohne ihn gemerkt. Dann zogen sie sich zurück, um Musik zu hören und Aufgaben zu machen, Barbara wagte
wieder, in ihrem angestammten Zimmer zu schlafen, und ich wollte die Nacht unten verbringen. Erika stöberte in ihrer Bibliothek nach Kommentaren von C. G. Jung zu parapsychologischen Phänomenen, und ich nahm meine Zeichnung mit Sha Muns Sonne mit hinauf, heftete sie an meine Pinn-Wand und las als Ergänzung zu meinem Artikel noch einen kürzlich erschienenen Derrida-Vortrag mit dem Titel »Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen«, blieb aber schon bald in der bekannten Umständlichkeit seiner Formulierungen stecken, als er vom »Ja« zu sprechen begann, das man zum Ereignis sagen solle. Ich fragte mich, ob er oder irgendein anderer Philosoph wirklich Ja sagen könnte zu dem Ereignis, das uns gerade heimsuchte. Je länger ich darüber nachdachte, desto richtiger fand ich es, dass sich meine Frau an einen Parapsychologen gewandt hatte, und ich blickte seiner Reaktion mit Spannung entgegen. Bevor wir zu Bett gingen, fragte mich meine Frau, ob ich nicht einen Schnaps aus der Hausbar holen könne, und zusammen tranken wir aus unsern kleinen Gläsern, die ich zweimal füllte, und weder sie noch ich wussten etwas zu sagen.
    Als ich in der Nacht einmal aufstehen musste, um auf die Toilette zu gehen, hörte ich es aus dem Gästezimmer ganz leise summen, diese Melodie, die sich um den einen Ton drehte, als suche sie ihn immer wieder, ohne ihn wirklich zu finden.
    Am nächsten Morgen, nachdem meine Frau und die Töchter gegangen waren, saß ich noch einen Moment mit Sha Mun in der Küche. Dann stand ich auf und wollte die Kerze, die wir immer anzünden, wenn wir am Tisch sitzen,
löschen, da hielt Sha Mun bittend ihre Hand auf meinen Arm. »Möchtest du sie brennen lassen?«, fragte ich, und das wollte sie offensichtlich. Von unserer Wohnküche aus kann man einen kleinen Balkon betreten, und das hatte sie jetzt vor. Zuerst wollte ich sie daran hindern, dachte dann aber daran, dass wir gestern die Geheimhaltung aufgegeben hatten, und ließ sie gewähren. Sie nahm die leere Corn Flakes-Schachtel vom Tisch und legte sie auf den Boden des Balkons. Dann holte sie einige Gefäße mit getrockneten Küchenkräutern vom Gewürzregal, kniete sich auf dem Balkon nieder, roch an jedem davon, bevor sie den gelochten Verteildeckel mit dem Fingernagel abklaubte und den ganzen Inhalt auf den Karton leerte. Die Düfte von Basilikum, Rosmarin, Petersilie und Thymian waren bis in die Küche zu riechen. Dann nahm sie aus der Tasche ihres Kleides, das immer noch dasselbe war, eine Handvoll Papierschnitzel und streute sie auf das Gewürzhäufchen. Ich konnte erkennen, dass es ihr Bild von der schwarzen Sonne war, welches sie in kleine Streifen zerrissen hatte. »Sha Mun!«, rief ich, denn es schmerzte mich, dass sie die Zeichnung zerstört hatte. Als sie mich anblickte, fragte ich sie: »Tsa merjäd ko-o jalsap?« Sie nickte, leerte einen Ring von schwarzem Pfeffer um Kräuter und Schnipsel, nahm dann die brennende Kerze und neigte sie vorsichtig zum Häufchen, das sogleich Feuer fing. Während sie die Melodie summte, die ich kannte, ging sie mit kleinen Schritten einmal um das Feuer herum, das sich bald in den Karton hineinfraß, und während der grüne Kellogg’s-Hahn mit dem roten Kamm langsam verschmorte, entströmten den Gewürzen erstaunlich intensive, fast betörende Düfte.

    Sha Mun hatte sich nun hingekniet, hatte aufgehört zu summen und wartete offensichtlich, bis sich der Rauch verflüchtigte. Die Kerze hatte sie neben sich hingestellt, sie brannte noch. Als ich sie zurück in die Küche stellen wollte, legte sie wieder ihre Hand auf meinen Arm.
    »Gut«, sagte ich schließlich, »wenn du etwas brauchst, ich bin oben. Und pass auf mit der Kerze, ja?«
    Ich ging nach oben, setzte mich an mein Notebook, um meinen Artikel durchzulesen, brachte noch ein paar Korrekturen an, öffnete dann mein Mail-Programm und schickte ihn an die Redaktion. Wenn ein Artikel weg ist, gönne ich mir immer einen Kaffee. Als ich in die Küche kam, war die Balkontüre noch offen, und Sha Mun kniete vor dem verlöschten Feuer und den schwarzen Kartonfetzen, die brennende Kerze neben sich.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich sie, und als sie nicht reagierte,

Weitere Kostenlose Bücher