Der Geisterfahrer
fröhlicher und ausgelassener Abend.
Die Folgen allerdings kann ich noch nicht recht abschätzen. Denn dass uns Sha Mun auf ebenso rätselhafte Weise verließ, wie sie zu uns kam, ändert nichts daran, dass sie während dreier Tage bei uns zu Gast war, und diese drei Tage haben das Leben von uns allen verändert.
Meine Frau hat sich deswegen in eine Therapie begeben und hat auch begonnen, sich mit Parapsychologie auseinanderzusetzen, Anna und Barbara hatten beide eine Weile Schlafstörungen, aber sie sind jung und werden das wohl, so meine Hoffnung, mit ihrem Erwachsenwerden verarbeiten. Allerdings, in die Waschküche geht niemand mehr von den dreien, das bleibt an mir hängen, an mir und der Haushalthilfe, der wir nichts von unserm Gast erzählt haben.
Und ich? Ich werde manchmal, mitten in der Arbeit, von etwas wie einer großen Abwesenheit ergriffen, und es ist mir, als röche ich den Duft des Räucheropfers, und den Duft Sha Muns und ihres dunklen Kleides mit den Goldborten und den lila Mäandern. Dann stehe ich auf, gehe zur Skizze mit der schwarzen Sonne, die immer noch an
meiner Wand hängt, und lese halblaut den Satz, den ich mir darunter geheftet habe: »Tsa merjäd ko-o jalsap.« Und eine Melodie steigt mir in den Kopf, eine Melodie, die um einen einzigen Ton kreist.
Der Brief
Zürich, 24. 8. 2004
Lieber Heiner!
Erschrick nicht, aber ich schreibe Dir aus dem Zürcher Bezirksgefängnis. Gleich nach der entscheidenden Einvernahme durch die Untersuchungsrichterin versuchte ich Dich telefonisch zu erreichen, erhielt jedoch den Bescheid, Du treibst Dich auf Deiner Segelyacht im Mittelmeer herum und kämest frühestens Donnerstagabend kurz ins Büro. Da geht es Dir besser als mir. Ich bin seit heute, Dienstagnachmittag, in Untersuchungshaft und habe Dich als meinen Anwalt bezeichnet. Wir kennen uns ja seit der Schulzeit, und es gibt einen Punkt in meiner Geschichte, zu dem ich wirklich nur einen Freund ins Vertrauen ziehen möchte, da warte ich lieber zwei, drei Tage, als dass ich Böhni oder Großenbacher antanzen lasse. Ich hoffe natürlich, dass Du mich, wenn Du mich (spätestens) am Freitag besuchen kommst, hier herausholen kannst und ich am Wochenende wieder an der Arbeit bin. Sonja gibt meine Abwesenheit als starke Sommergrippe aus. Weil ich aber nun Zeit habe, und damit Du nicht unvorbereitet bist, möchte ich Dir erzählen, wie es dazu kam, dass ich plötzlich in diesem merkwürdigen Einzelzimmer sitze.
Es ist eine Reihe von derart blödsinnigen Zufällen, dass ich die Untersuchungsrichterin beinahe begreife, wenn sie mir das alles nicht glaubt. Aber eins nach dem andern.
Wie Du weißt – oder weißt Du das gar nicht? – bin ich als Pfarrer auch in der Ausbildung von Katecheten tätig (wobei es sich in der Mehrzahl um Katechetinnen handelt), und einen solchen Ausbildungsnachmittag hatte ich im Kirchgemeindehaus Uster hinter mir, als ich auf dem Bahnhof von Uster stand und auf die S-Bahn wartete. Die nächste fuhr in etwa 10 Minuten, und da ich – aber das weißt Du bestimmt – immer gerne in Bewegung bin, spazierte ich über den ganzen endlosen Perron bis zuvorderst, und als ich mich wieder umdrehen wollte, sah ich zwischen dem Schotter und dem Geleiseunkraut etwas Rotes leuchten.
Heute verfluche ich meine Neugier, die mich dazu verleitete, einen Schritt vom Bahnsteig hinunter in den Schotter zu tun und dieses kleine Ding, das zwischen zwei Steinen steckte, herauszuziehen. Es war ein Metallplättchen, vorne rot, hinten farblos, mit der weißen Aufschrift ZH, und darunter 87. Zwei Löcher darin zum Anschrauben und zuunterst, wo die rote Farbe aufhörte, eine 6-stellige Nummer, die ich inzwischen leider auswendig kann, 912628, das ganze Metallplättchen etwa 5 cm lang und 3 cm breit. Sagt Dir das etwas, alter Autofahrer und Hochseesegler? Es ist eine Velonummer, die wir Proletarier, die wir uns noch von Zeit zu Zeit auf zwei Rädern fortbewegen, jedes Jahr neu lösen müssen. Wenn Du bei einer Kontrolle ohne erwischt wirst, zahlst Du eine Buße, und vor allem hast Du ohne diese Nummer keine Haftpflichtversicherung,
falls Du einmal einen Fußgänger zuschanden fährst. Bloß: Seit ich weiß nicht genau wann, aber mindestens 10 oder sogar 15 Jahren klebt man nur noch ein Plastikzettelchen mit der entsprechenden Jahrzahl und Nummer hinten an den Gepäckträger, so man einen hat, oder sonst irgendwo unter den Sattel auf den Rahmen.
Dieses Nummernschildchen stellte also bereits eine kleine
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