Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
Vom Netzwerk:
Schnee lag. Außerhalb des Dorfes sah man kein Haus mehr, und ich wunderte mich, wo die Mutter wohl wohnen mochte. Erst als die Tochter das Tor zum Friedhof aufstieß, wusste ich Bescheid.

    Die neueren Gräber lagen beim Eingang, die älteren Gräber weiter hinten, wir gingen zu den älteren, wo sich die schmiedeisernen Kreuze mit den ovalen braunen Bildern der Verstorbenen schon etwas zu neigen begannen. Wir machten halt vor einem Marmorstein. Drei Namen standen darauf:
    François Houdayer
1940–1943
Marcel Houdayer
1911–1944
Josefine Houdayer
1910–1976
    In diesem Marmorstein war auf der rechten Seite über den Namen eine Nische eingelassen, und in dieser Nische stand, ebenfalls aus Marmor, eine französische Fahne, blau-weiß-rot bemalt, und in die untere Ecke der Fahne war ein kleiner, schwarzer Elefant gemeißelt.
    Was mir die Tochter nun erzählte, lässt sich etwa so zusammenfassen: Das Ehepaar Houdayer hatte zwei Kinder, sie, Stéphanie, 1938 geboren, und den kleinen François, 1940 geboren. Bei Ausbruch des Krieges war Marcel Houdayer Bürgermeister des Dorfes, einer der jüngsten übrigens in der Gegend, und nach der Kapitulation der französischen Armee ging er in den Maquis. Er war der Anführer einer großen Partisanengruppe, alles Leute aus der Umgebung. Nachdem sie einmal einen deutschen Munitionstransport überfallen und in die Luft gesprengt hatten, erschien ein SS-Kommando im Dorf, die jungen Männer waren weg, alle Frauen und Kinder und die Alten mussten sich hier vor der Friedhofmauer versammeln, und dann erschossen sie den kleinen François und zogen wieder ab.
Der Vater kam ein Jahr später bei einem Gefecht mit einer deutschen Patrouille ums Leben, und die Mutter blieb nun allein mit ihrer Tochter. Sie war eine außergewöhnliche Frau, sie konnte manche Krankheiten durch Handauflegen heilen, und die Leute der Gegend vertrauten ihr mehr Geheimnisse an als dem Beichtvater. Ihr ganzes Leben lang aber wollte sie den Tod ihres Kindes rächen. Sie war sicher, dass der Mörder noch lebte, sie würde es fühlen, wenn er sterbe, hatte sie immer gesagt. Von Nachforschungen hielt sie nichts, sie werde ihre eigenen Boten aussenden, sagte sie, einer davon werde ihn aufspüren, und sie begann diese Halstücher zu weben, jede Nacht, und niemand durfte sie dabei stören, weil sie den Tüchern während der Arbeit zusprach und ihre Kraft auf sie zu übertragen suchte. Fast wie man auf einen Suchhund einrede, so habe sie jeweils mit den Halstüchern gesprochen, hätte sie auch gestreichelt und sogar geküsst, wenn sie jeweils den Elefanten aufgestickt habe.
    »Warum der Elefant?«
    Elefanten vergessen nie, habe die Mutter immer gesagt, 1976 sei sie dann gestorben, eine Lungenentzündung habe sie sich geholt auf dem Markt drunten, aber sie habe noch gesagt, sie werde es uns wissen lassen, wenn der Mörder sein gerechtes Ende gefunden habe. Das war drei Jahre später, nicht wahr? Und Sie kommen deswegen.
    Ja, sagte ich, ja, ich komme deswegen, aber woher sie wisse, dass es 1979 gewesen sei.
    »Die Pflanze«, sagte sie, »die Pflanze«, und zeigte auf einen Seidelbast, der jetzt auf dem Grab blühte und duftete, »die Mutter wünschte sich diese Pflanze aufs Grab, weil
sie den Frühling ankündigt, und drei Jahre lang blühte sie nicht. Als sie im Frühling 1980 zu blühen begann, war ich sicher, dass François’ Tod gerächt war.«
    »Haben Sie den Mann gesehen, der schoss?«, fragte ich.
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich war fünf Jahre, aber ich würde ihn heute noch kennen, auch wenn er vierzig Jahre älter ist, sein schmales Gesicht mit dem harten Blick. Es war furchtbar.«
    Als ich ihr das Foto zeigte, krallte sie ihre Hand in meinen Arm und wandte sich ab. Sie schluchzte und nickte und lachte gleichzeitig.
    »Sind Sie sicher«, fragte ich sie nach einer Weile.
    Sie schaute nochmals auf das Bild und sagte, absolument.
    »Dann ist es gut«, sagte ich und erzählte ihr, was ich über den Tod des Mannes wusste.
    Und ich, was ich damit zu tun habe, fragte sie mich.
    »Ich habe vor zwanzig Jahren bei Ihrer Mutter das Halstuch gekauft, mit dem er sich aufgehängt hat«, sagte ich, »und dann hat es seinen Weg zu ihm selbst gefunden.«
    Stolz mischte sich in ihre Erregung, und als wir vom Friedhof wieder zum Dorf hinuntergingen, strahlte sie eine große Ruhe und Zufriedenheit aus. Auf halbem Weg kam uns der Pfarrer entgegen und blickte uns beide sehr eigenartig an, ich dachte, ich sollte vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher