Der Geisterfahrer
auch mit ihm sprechen, aber sie zog mich weiter.
Ob ich bleiben wolle, fragte sie, oder ob ich den Bus zurück nehmen wolle, der in einer Viertelstunde fahre. Sie schaute mich beim zweiten Satz fast bittend an, und ich wollte plötzlich so schnell wie möglich weg.
Wir standen zusammen auf dem Dorfplatz und schwiegen,
vom Bistro herüber schauten uns die alten Männer an, der kleine Dicke trommelte immer noch mit den Fingern und sang dazu einen stets gleichen Kehrreim. Dann kam der Bus, ich gab der Frau die Hand, nachher sah ich, dass sie mir eine Seidelbastblüte hineingelegt hatte.
Zwei Tage später läutete ich am Nachmittag beim Pfarrhaus eines kleinen Dorfes im Thurgau. Bei der kurzen Begegnung mit dem Pfarrer des südfranzösischen Dorfes war mir mit einem Mal aufgegangen, dass es nur der Gefängnisgeistliche sein konnte, der dem Häftling das Halstuch gegeben haben musste, und dass dies die Bekanntschaft war, welche die Kinderärztin nicht erwähnen wollte. Der damalige Gefängnisgeistliche war der jetzige Pfarrer dieser Thurgauer Gemeinde, der nun unter dem Türrahmen stand und fragte, was er für mich tun könne.
»Sie haben doch damals«, sagte ich, als ich ihm in seinem Arbeitszimmer gegenübersaß und mich vorgestellt hatte, »diesem Deutschen Ihr Halstuch gegeben, mit dem er sich später erhängte?«
Der öffnete ratlos den Mund, sagte aber nichts.
»Es würde mich nur interessieren, warum Sie es ihm gegeben haben«, sagte ich.
Erst als ich beifügte, dass das Halstuch früher mir gehört hatte und dass mir darum die Sache ebenso nahe gehe wie ihm, der ja offenbar deshalb seine Stelle gewechselt habe, war er bereit, mir etwas zu erzählen.
»An jenem Sonntag«, sagte er, »hatte ich eigentlich meine Besuche beendet und war schon am Gehen, als mir der Verwalter sagte, Rehmann wolle eine Beichte ablegen,
und da er bisher mit niemandem habe sprechen wollen, sei es vielleicht wichtig, dass ich hingehe. Ich war bereits im Mantel und ging so in seine Zelle. Nachdem er gebeichtet hatte, sagte er plötzlich: »Mich friert so.« Ich weiß, dass es nicht erlaubt ist, Häftlingen etwas zu geben, schon gar nicht ein Kleidungsstück, aber irgendwie konnte ich nicht anders als ihm mein Halstuch anzubieten. Es kam dazu, dass seine Beichte außerordentlich schwer gewesen war und ich das starke Bedürfnis hatte, ihm auf eine Art zu helfen, und so gab ich ihm einfach mein Halstuch. Er nahm es sehr dankbar an.«
»Hat er Ihnen den Mord an einem Kind gebeichtet?«
Der Pfarrer fuhr zusammen.
»Ich darf es Ihnen nicht sagen«, sagte er leise.
»Aber Sie können nicken«, sagte ich.
Der Pfarrer schaute mich an. Dann nickte er.
Am nächsten Tag saß ich gegen Abend im Büro des Staatsanwalts. Der Schrank mit den ungelösten Fällen war geöffnet, vor uns auf dem Schreibtisch lag das Halstuch, mein Halstuch, wie ich jetzt mit eigenen Augen sah.
»Und?«, fragte er, »wer war er?«
»Ein früherer SS-Mann«, sagte ich.
»Hab ich mir fast gedacht«, sagte er, »wahrscheinlich stammten seine Silberbarren aus konfisziertem jüdischem Gut aus dem Krieg. Alle, die übrig geblieben sind von diesen Mannschaften, halten noch immer zusammen, die alte Odessa-Linie. Und was ist mit dem Halstuch?«
»Der Anstaltspfarrer hat es ihm gegeben«, sagte ich nicht ohne Stolz auf meine Enthüllung.
»Das weiß ich längst«, sagte er, »wir hatten ihn zuerst sogar unter Verdacht, aber die Zeit von Rehmanns Tod stand fest, und sein Alibi war unumstößlich. Ich meine, was ist mit dem Ursprung des Halstuchs?«
Nun erzählte ich ihm alles, was ich wusste, den Weg, den das Halstuch gegangen war und das, was ich in Südfrankreich darüber erfahren hatte. Als ich geendet hatte, schwieg er zuerst. Er schien sehr beeindruckt. Dann sagte er:
»Weil du mir alles erzählt hast, erzähle ich dir auch alles, obwohl ich es nicht tun dürfte. Aber ich weiß erst jetzt, dass ich das, was ich damals gesehen habe, wirklich gesehen habe.«
»Warum?«
»Dass sich Rehmann erhängt hat, ist die offizielle Version, aber nicht die Wahrheit.«
»Wieso das?«
»Weil die Wahrheit so unerklärlich und unwahrscheinlich war, dass ich sie nicht bekanntgeben konnte. Als ich damals die Zelle betrat, sah ich sofort, dass ein Selbstmord unmöglich war. Rehmann war nicht am Fensterkreuz aufgehängt, sondern er lag erdrosselt am Boden, erdrosselt mit diesem Halstuch, und ich kann dir sagen, dass ich weder vorher noch seither jemals den Ausdruck eines
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