Der Geisterfahrer
ernstem Blick darauf aufmerksam machte, dass mein Billett nur bis Zürich Gültigkeit habe.
»Gut«, sagte ich, »dann möchte ich nachlösen«, und schaute den Kondukteur prüfend an. Als ich in seinen Augen nichts Schalkhaftes entdeckte, fügte ich vorsichtig bei, »bis Singapur.«
Der Kondukteur ließ sich immer noch nichts anmerken, zog ein Tarifblatt aus seiner Tasche, tippte mit einem Bleistift einige Felder darauf an, bewegte lautlos seine Lippen und sagte zum Schluss: »Das macht noch 1182 Franken.«
»Ich habe aber ein Halbtaxabonnement«, sagte ich. »Sie haben recht«, sagte der Kondukteur, »das verbilligt natürlich die Strecke Zürich – Buchs, 1167.50 ist es dann noch.«
»Tja«, sagte ich, »wissen Sie was, ich steige doch lieber in Zürich aus.«
»Das geht leider nicht«, sagte der Kondukteur, »wir fahren über Zürich-Enge, ohne Halt.«
»Ohne Halt bis wohin?«
»Ohne Halt bis Singapur.«
Jetzt wurde ich etwas unruhig.
»Das ist ein Missverständnis«, sagte ich, »ich will gar nicht nach Singapur.«
»Wieso sind Sie dann in diesen Zug gestiegen?«
»Einfach so«, sagte ich, »einfach so – Sie fahren doch nicht wahrhaftig nach Singapur?«
»Wohin denn sonst?«, sagte der Kondukteur, »halten Sie uns für Betrüger? Ich habe mich schon vorbereitet«, fuhr er fort und knöpfte seine Uniform über dem Gürtel
ein bisschen auf, sodass man darunter ein khakifarbenes Hemd sah. »Es kann sehr heiß werden«, sagte er halblaut.
»Ich habe mich überhaupt nicht vorbereitet!«, rief ich, indem ich von meinem Sitz sprang, »ich habe nicht einmal einen Pass!«
»Sie haben keinen Pass?«, fragte der Kondukteur, »das ist aber unangenehm, da wird man Sie in Singapur gleich wieder heimschicken.«
»Ich bleibe gleich daheim«, sagte ich entschieden, »man wird mich ja schon bei der Grenzkontrolle in Österreich nicht durchlassen«, und setzte mich wieder, froh, dass mir dieses Argument in den Sinn gekommen war.
»Es gibt keine Grenzkontrolle in Österreich«, sagte der Kondukteur, »die Wagen sind plombiert.«
Ich konnte fast nichts sagen.
»Heißt das«, fing ich an, »heißt das …«
»Ja«, sagte der Kondukteur, »die einzige Grenzkontrolle ist in Singapur. Bis dahin bleiben wir im Wagen.«
Plötzlich drängte ich mich am Kondukteur vorbei, eilte zur Türe und zog, was ich sonst noch nie getan habe, die Notbremse. Sogleich ertönte im ganzen Wagen eine sanfte und tiefe Instrumentalmusik, zu der eine dünne Frauenstimme ein unverständliches Lied sang.
»Wir haben alles getan, um unsern Reisenden die Fahrt angenehm zu machen«, sagte der Kondukteur, der jetzt hinter mir stand. »Wenn Sie zweimal ziehen, hören Sie das klassische Programm, und wenn Sie dreimal ziehen, Ländlermusik. Ein bisschen Heimat braucht man ja schon auf einer solchen Strecke.«
Ich schaute an seinem breiten Lächeln vorbei, das mir
missfiel, und sah erst jetzt, dass dort, wo sich sonst die Gepäckträger der Wand nach ziehen, Schiebeschränke angebracht waren.
»Die Betten«, sagte der Kondukteur, der meinen Blick bemerkt hatte. »Sie steigen hinauf, schieben die Tür hinter sich zu, und schon sind Sie wunderbar für sich. Es hat sogar«, sagte er stolz, »eine kleine Bibliothek bei jedem Sitz.« Er zog an einer Armlehne, und es kam ein Regal mit ein paar Büchern heraus, hauptsächlich von Simmel, Konsalik und Frank Arnau. »Essen«, sagte er weiter, »wird Ihnen dreimal täglich gebracht, für einen Speisewagen hat es noch nicht gereicht. Mit dem Wasser sollten wir etwas sparen, dafür hat es reichlich Feuchtwaschtüchlein.«
»Entschuldigen Sie«, sagte ich, »ich muss etwas frische Luft haben«, und trat zu einem Fenster. Der Kondukteur trat auch herzu und sagte: »Fenster können keine geöffnet werden, aber die automatische Lüftung funktioniert einwandfrei.«
»Lassen Sie mich bitte einen Moment allein«, sagte ich. »Bitte sehr«, sagte der Kondukteur und ging zur Tür hinaus. Vom andern Ende des Wagens her nahte sich nun langsam ein fetter Asiate mit einem kragenlosen weißen Hemd und einer Mütze, der ein blitzblankes, überall geschlossenes Metallwägelchen durch die leeren Reihen schob.
Ich riss die Tür auf und stieß auf den Kondukteur, der gleich dahinter stand. »Fährt denn sonst niemand nach Singapur?«, fragte ich ihn.
»Leider nicht«, sagte er, »Sie sind der einzige, der sich dazu entschlossen hat. Übrigens, Flückiger ist mein Name.«
Später, als wir uns darauf geeinigt hatten,
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