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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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gefundenen Schachtel gebracht haben, will ich Ihnen meine Geschichte erzählen. Mit Righetti« – er wies mit dem Kopf auf seinen zuckerkranken Zimmernachbarn – »hab ich schon gesprochen, er will auch zuhören.
    Ich heiße Ernesto Tonini, ich bin 1904 in diesem Tal geboren, und ich weiß nicht, ob Sie sich eine Vorstellung davon
machen können – Sie sind Deutschschweizer, nicht? – wie man damals gelebt hat. Es war ein einziger Kampf ums Überleben, der vom Talboden bis zur Waldgrenze hinauf geführt wurde, jeder Quadratmeter, den man bewirtschaften konnte, zählte, jeder Kastanienbaum bedeutete so und so viel Mahlzeiten für hungrige Mägen, oft mussten die Kinder den ganzen Sommer lang auf die oberste Alp mit den Ziegen und Schafen und hatten als einzige Nahrung drei bis vier Liter Ziegenmilch am Tag, alle Familien hatten zu viele Kinder, und wenn die Mutter bei der Geburt des siebten Kindes starb und der Vater beim Mähen von einer Kreuzotter gebissen wurde und kein Gegengift da war, wurden die Kinder zu Verwandten gegeben, wo sie sich gewöhnlich vom ersten Hahnenschrei bis nach Sonnenuntergang abrackern mussten, oder sie kamen ins Waisenhaus. Ich hatte Glück und kam ins Waisenhaus, und ich hatte nochmals Glück und bekam nach der Schule eine Stelle als Laufbursche im Grand Hotel Locarno.
    Natürlich versuchte man auch dort, das Letzte aus uns herauszuholen. Um 5 Uhr war Tagwacht, dann mussten wir die große Terrasse und den Vorplatz wischen, wir mussten die Brötchen beim Bäcker holen, und wehe, man wurde erwischt, wenn man eins gegessen hatte, der Küchenmeister zählte sie ab und zog es dir vom Lohn ab, falls man das Lohn nennen konnte, 50 Rappen am Tag, und ein Brötchen kostete 10 Rappen. Ich will euch nicht weiter langweilen mit dem, was wir zu tun hatten, sondern sage nur noch, dass man als Jüngster alles zugeschoben bekam, worum sich die Älteren zu drücken versuchten. Wir wohnten zu viert in Zimmern mit zwei Betten übereinander,
zwischen denen gerade ein Mensch stehend Platz hatte, und für die andern, die alle von Locarno, Ascona oder Tenero kamen, war ich der Tölpel aus dem Tal, ich hatte auch keine Gelegenheit, meine Geschwister zu sehen, kurz, ich war einsam, elend und arm, und ich war täglich um Leute herum, die gesellig, fröhlich und reich waren, und so wurde ich Kommunist.«
     
    Ernesto Tonini lächelte und schaute vom einen zum andern. Wir mussten ziemlich überraschte Gesichter gemacht haben.
    »Das hättet ihr nicht gedacht, stimmt’s oder hab ich recht?«
    Wir zwei Zuhörer nickten, und er fuhr weiter.
     
    »Der Bäckerjunge, der mir jeweils die Brötchen übergab, nahm mich an einem meiner wenigen freien Abende an eine Versammlung mit, die in einer kleinen Druckerei in Muralto abgehalten wurde, was heißt Versammlung, es war eher eine Verschwörung, sechs oder sieben Männer waren da, und manchmal noch Giulietta, die Tochter des Druckers, und dieser erzählte uns, wie sich Marx eine Welt ausgedacht hatte, in der es keine Armen und Reichen mehr gibt, sondern in der allen alles gehört, und wie unser großer Genosse Lenin von der Schweiz nach Russland gefahren war und dort den Zar gestürzt hatte, um diese Welt aufzubauen, und wie es aber besser sei, dort, wo man arbeite, vorläufig nichts von diesen Ideen zu sagen, weil bei uns noch die Reichen regierten und wir dann sofort rausflögen, z. B. aus dem Grand Hotel Locarno.

    Daran hielt ich mich, aber von dem Moment an, wo ich bei den Kommunisten war, sah die Welt ganz anders aus für mich. Ich wurde gelassener und machte meine Arbeit besser, denn ich wusste nun, dass dies alles nicht so bleiben würde und dass ich eines Tages meine Geschwister, die als Mägde, Knechte oder Steinbrecher arbeiteten oder noch im Waisenhaus waren, ins Grand Hotel würde einladen können, in die Zimmer mit Seesicht.
    Da ich ganz adrett aussah, bekam ich ab und zu ein Trinkgeld, und ich kaufte mir kleine Lehrbücher für Deutsch, Französisch und Englisch, die ich mir in die Tasche steckte und während meiner Botengänge hervorzog, um mich mit diesen Sprachen vertraut zu machen. Wir seien, sagte uns der Drucker immer wieder, eine Zelle, und es sei gut möglich, dass man einen von uns einmal ins Ausland schicke, wo die Weltgeschichte gemacht werde.
    Wenn ich den fremden Gästen die Koffer ins Zimmer trug, versuchte ich immer, etwas in ihrer Sprache zu sagen und von ihnen zu lernen. Das machte mich beliebt, und öfters verlangten die Gäste, dass

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