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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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ließen, geschah etwas Eigenartiges.
    Ihr werdet begreifen, dass ich angesichts dessen, was bevorstand, ziemlich nervös war, und so schüttete ich ausgerechnet der einzigen Dame an Bord, Lady Chamberlain, etwas Weißwein über ihr Kleid, was mir einen zornigen Blick des Hauptkellners eintrug, während mich Lady Chamberlain nachsichtig anschaute und fragte: ›Are you in love, young man?‹
    Und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich wirklich verliebt war, und zwar in Giulietta, die Tochter des Druckers, der ich so gerne nachschaute, wenn sie uns Verschwörern etwas zu trinken brachte und dann wieder ging, und ich merkte, dass ich schon lange auf eine Gelegenheit wartete, sie allein zu sehen, sie einzuladen, mit mir spazieren zu gehen, und dass ich mit diesem Gedanken nicht einfach spielte, sondern dass ich darauf brannte, sie zu küssen und zu umarmen, und dass ich auf keinen Fall in die Weltgeschichte eingehen wollte, bevor ich nicht mit
einem Mädchen ausgegangen war, und zu meinem großen Erstaunen hörte ich mich antworten: ›Yes, I am, Madame, and I beg your pardon.‹«
     
    Ernesto Tonini fasste nun mit den Händen die vorderen Krümmungen der Armlehne, zog seinen gebrechlichen Körper nach vorn, so weit es ging, schaute uns eindringlich an und fuhr dann weiter:
     
    »Und als der Moment kam, in dem mich der Hauptkellner hieß, die Torte zu holen, ging ich auf’s Hinterdeck und wusste mir nicht anders zu helfen, als dass ich absichtlich über eine Bank stolperte und die Blechschachtel mit der ›Pace und Locarno‹-Torte über die Reling in den See fallen ließ, wo sie langsam versank.
    Die Empörung des Hauptkellners kannte keine Grenzen, auch Monsieur Loucheur zischte mir ›connard‹ und ›crétin‹ zu, und wäre nicht Lady Chamberlain gewesen, die ihre Hand auf die meine legte und versöhnlich sagte: ›He is in love, gentlemen – why don’t you love each other too?‹, hätte ich wohl auf der Stelle Prügel gekriegt.
    So rot wie damals bin ich nie mehr geworden, und wer weiß, ob Deutschland in den Völkerbund aufgenommen worden wäre ohne die Fürsprache von Lady Chamberlain für die Liebe, und so habe ich vielleicht doch ein bisschen am Gang der Welt mitgewirkt. Natürlich machte die Geschichte sofort die Runde, alle Kollegen nannten mich von da an nur noch ›la torta‹, und hätte sich nicht Lady Chamberlain sofort bei der Direktion des Hotels für mich eingesetzt, wäre ich bestimmt gefeuert worden.

    Was in der Torte war, hat nie jemand erfahren, aber am nächsten Tag ging ich zum Drucker und sagte ihm, dass seine Dynamitstangen am Grunde des Lago Maggiore in einer Kuchenschachtel lägen und dass er das nächste Attentat besser selber ausführe, statt es einem Trottel wie mir anzuvertrauen, und dass ich nicht mehr an seine Versammlungen käme und auch nicht mehr an den Kommunismus glaube, wenn man für ihn so nette Leute wie Herrn und Frau Chamberlain umbringen müsse und erst noch selbst draufgehe dabei.
    Ich gab ihm jedoch mein Wort, niemandem etwas davon zu erzählen, wofür er sehr dankbar war, und im Übrigen wurde er später mein Schwiegervater, denn Giulietta mochte mich, wir küssten und umarmten uns in der kurzen Zeit, in der wir ein Paar waren, denn sie ist jung und kinderlos an Tuberkulose gestorben, aber ich liebe sie noch heute, ich liebe sie und Lady Chamberlain, die mich beide daran gehindert haben, in die Weltgeschichte einzugehen.«
     
    Erschöpft ließ sich der alte Mann in den Lehnstuhl sinken, und eine Weile war es ganz ruhig im Zimmer. Dann bat er mich, vom Waschtisch die beiden Zahngläser zu holen und auszuspülen und das untere Fach seines Schranks zu öffnen. Dort stand hinter seinem kleinen Koffer, in dem er einst das Dynamit aufbewahrt haben musste, eine Flasche Grappa und ein Zinnbecher mit der Aufschrift »Grand Hotel Locarno«.
    Er ließ es sich nicht nehmen, uns, zitternd zwar, aber ohne etwas zu verschütten, selbst einzuschenken, und wir tranken, während es draußen zu regnen begann und allmählich
dunkler wurde, die ganze Flasche in kleinen und langsamen Schlucken aus.
     
    Als ich meinen Bekannten nach zwei Tagen anrief, weil unser Tausch vom Grundbuchamt genehmigt worden war, sagte er mir, Ernesto Tonini sei in der Nacht darauf friedlich gestorben.

Der Schimmel
    A ls die Frauenärztin, die ich Dr. Sabina Christen nennen will, nach einem anstrengenden Montag in der Praxis die Tiefgarage betrat, in der sich ihr Auto befand, stutzte sie einen Moment.

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