Der Geisterfahrer
in einem der Täler hinter Locarno. Etwas bescheidener der Bau, der Mitteltrakt hinter zwei Ecktürme zurückversetzt, mit einem großen gepflästerten Platz davor, der in eine Glyzinienpergola mündet,
aber oben, wo in Locarno der Name des Hotels in auswechselbaren Leuchtbuchstaben prangt, steht beim Altersheim in unvergänglicher Mosaikschrift der Name des Stifters.
In dieses Altersheim führte mich letztes Jahr eine private Angelegenheit. Der Kanton Tessin hatte begonnen, die Parzellierung der unzähligen Grundstücke zu vereinfachen und den Besitzern Vorschläge zur Zusammenlegung oder zu Abtäuschen zu machen, und da ich auf einer Alp ein kleines Stück Land mit einem Stall besitze, in dem wir gerne ein paar Sommertage verbringen, kam auch an mich eine solche Anfrage, und ich beschloss, den Besitzer des Nachbargrundstücks aufzusuchen. Der lebte seit Kurzem in diesem Altersheim, wir kannten uns, und er freute sich über meinen Besuch, klagte über sein abnehmendes Augenlicht und über seine Zuckerkrankheit, die ihm in die Beine fahre, sodass er kaum mehr gehen könne, kurz, über das ganze zusammenbrechende System seines Körpers, für das man auch das einfache Wort Alter benutzen kann. Er war mit dem Landabtausch, den ich ihm vorschlug, ohne Weiteres einverstanden, fragte nach dem Zustand der Quelle, des Baches und der alten Kastanienbäume und erzählte mir von den Zeiten seiner Kindheit, als es im Dorf noch 600 Stück Vieh gab, von denen in unseren Tagen nicht einmal eine einzige Kuh übrig geblieben ist.
Während unseres Gesprächs lag sein Zimmernachbar regungslos, mit halb geöffnetem Mund im Bett und ließ nur von Zeit zu Zeit ein leises Stöhnen hören. Als ich ihn einmal fragte, wie es ihm gehe, reagierte er nicht.
»Er hört nichts mehr«, sagte mein Bekannter, »er ist
bald hundert, und ich glaube, er will schon lange sterben, kann aber nicht.«
Wir fuhren mit unserm Gespräch fort, und ich fragte, ob es früher auch schon Wildschweine gegeben habe am Hang oben, da hob sein Bettnachbar den Kopf und sagte: »Un giorno vanno trovare la torta.« »Eines Tages werden sie die Torte finden«, und ließ seinen Kopf wieder sinken.
Mein Bekannter lächelte und sagte, das sei das Einzige, was der arme Kerl noch sage, und sie nennten ihn deswegen nur »la torta«, ein Spitzname, mit dem er bereits ins Pflegeheim gekommen sei und den er offenbar in seinem Dorf ein Leben lang getragen habe. Aber was der Grund dafür sei, wisse niemand, und es kämen auch keine Familienangehörigen zu Besuch, die man fragen könne.
Ich trat zum Bett des Alten, beugte mich über ihn und fragte: »Dove vanno trovare la torta?« »Wo werden sie die Torte finden?«
Ohne die Augen zu öffnen, sagte er: »Nel lago.« »Im See.«
Ich fragte meinen Bekannten, ob er auch gelesen habe, dass die Seepolizei kürzlich im Lago Maggiore bei einer Suchaktion nach einem Ertrunkenen im Bodenschlamm eine große Blechschachtel mit der Aufschrift »Grand Hotel Locarno« gefunden habe, in welcher verrostete Zünder gewesen seien, die zu einer Ladung Dynamit gehört haben könnten, und dass ein Rätselraten um diesen Fund entstanden sei.
Kaum hatte ich dies gesagt, fuhr der Alte in seinem Bett hoch, riss die Augen weit auf und rief: »L’hanno finalmente trovata!« »Endlich haben sie sie gefunden!«
»Die Torte?«, fragte ich und fügte hinzu: »Es war aber Dynamit drin.«
Nun erschien die Pflegerin mit dem Mittagessen und war ganz erstaunt, den Alten aufrecht im Bett sitzen zu sehen, und sie staunte noch mehr, als dieser mit klarer Stimme zu mir sagte, ich solle jetzt gehen und am Nachmittag wieder kommen, dann werde er mir die Geschichte mit der Torte erzählen.
Ich suchte eine Osteria auf, wo man mir eine wunderbare Polenta mit einem Kaninchenschenkel servierte, und als ich am Nachmittag wieder das Altersheim aufsuchte, war mit dem Alten eine eigenartige Veränderung geschehen. Er saß im Lehnstuhl am Fenster und trug ein blaues Jackett mit Brusttressen und eine Mütze mit der Aufschrift »Grand Hotel Locarno«, und so wie er dasaß, hätte man ihn ohne Weiteres gerufen, um einen Koffer ins Zimmer tragen zu lassen. Was er nun erzählte, trug er ohne zu stocken vor, sodass ich fast nicht glauben konnte, dass es sich um denselben röchelnden Menschen handelte, den ich heute Morgen gesehen hatte.
»Nehmen Sie Platz«, sagte er zu mir und wies auf den Besucherstuhl, »ich kenne Sie zwar nicht, aber weil Sie mir die Nachricht von der
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