Der Geisterfahrer
Jahren seiner Chauffeurlaufbahn noch keinen einzigen Transport nicht zu Ende geführt hatte, und nahm sich vor, entweder mit dem Superthronger in die Schweiz zurückzukehren oder gar nicht. Entschlossen füllte er die Gesuchsformulare für die Zonendurchfahrt aus, vergaß auch den kleinen gelben Zusatzzettel nicht und schickte alles nach Ost-Berlin. Dann fuhr er nach Helmstedt, wo er eine Stelle als Garndreher fand.
Da er ein zuverlässiger und solider Arbeiter war, der sich in Abendkursen weiterbildete, stieg er schon nach zwei Jahren zum pensionsberechtigten Garndrehermeister auf und hatte alle Aussichten, es zum Obergarndreher zu bringen, als die Bewilligung aus Ost-Berlin eintraf. Für Herrn Lätt war klar, was er tun musste, und nach einer kleinen Abschiedsfeier im engsten Garndreherkreise bestieg er die Führerkanzel seines Doppelsattelschleppers und fuhr nach einer zweitägigen Zollkontrolle in die DDR ein. Einmal drin, waren die Schwierigkeiten gering, es reute ihn bloß, dass er fast seine ganzen Ersparnisse vom Garndrehen in die nach Transittonnenkilometern berechnete Transitgebühr stecken musste, die sich in den zwei Jahren verfünffacht hatte. Erleichtert legte er nach wenigen Tagen an der Grenzstelle Juchhöh bei Hof an und stellte sich zur Ausfahrt in die Bundesrepublik ein. Als ihn aber der Zollbeamte nach Durchsicht der Formulare ins Zollgebäude kommen ließ, ahnte Herr Lätt Schlimmes, und das mit Recht, hatte er doch tatsächlich auf dem vierundzwanzigsten Formular den schräggesetzten Zusatz übersehen, dass diese Transitpapiere nur für die Durchreise in ein weiteres
sozialistisches Land gültig seien, nicht aber zum Austritt in die Bundesrepublik. Da die Papiere zudem nur für die Autobahn Gültigkeit besaßen, war die Ausreise über Stettin oder Frankfurt an der Oder nach Polen die einzige Möglichkeit.
Von da an werden die Nachrichten über Herrn Lätt spärlicher. Ein paar Jahre hindurch erhielt Frau Lätt in Suhr noch Postkarten aus östlichen Ländern, einmal aus der Nähe von Warschau mit dem Satz »Auf in die Tschechoslowakei!« , später aber, viel später, aus Riga, mit der Feststellung, es sei doch schwieriger gewesen, als er gedacht hätte, da es ihm nicht möglich gewesen sei, die Weichsel zu überqueren. Er berichtete kurz, dass er sie mit einem Riesenfrachter durch die Ostsee umschifft habe und jetzt von Riga aus Kurs auf die Slowakei nehme, um durch das ungarische Flachland über Wien ins Rheintal zu fahren. Rheintal war übrigens »Reihntal« geschrieben. Zwei Jahre danach traf eine Karte aus Saratow an der Wolga ein, auf der Herr Lätt in zittriger Schrift die Hoffnung ausdrückte, demnächst über die Türkei und den Balkan … Seitdem fehlt von ihm jede Nachricht.
Das Beznauer Kraftwerk hat sich inzwischen einen Superthronger von der Firma Sulzer an Ort und Stelle fabrizieren lassen, Frau Lätt hat nach der Verschollenheitserklärung ihres Mannes wieder geheiratet, einen Elektrowickler aus Buchs, und ihre beiden Töchter besuchten das Seminar Aarau und sind jetzt beide Lehrerinnen, die eine in Zuzgen, die andere in Turgi.
Kürzlich aus der Sowjetunion zurückgekehrte Volkskundler berichten von einer neuen Sage im Ural, wonach
ein brüllendes Eisenungeheuer, von einem weißbärtigen Fremden geritten, des Nachts die Straßen verwüste und sich langsam nach Osten bewege.
Die Torte
Die Torte
W er vom Bahnhof in Locarno zur Altstadt hinuntergeht, kommt nach wenigen Schritten an einer Passage vorbei, in welcher junge Leute in farbigen Mützen und T-Shirts sitzen, vor sich Kartonschachteln mit Pommes frites und Becher mit Coca-Cola. Die metallenen Tische und Stühle sind über verschiedene Stufen verteilt, die nicht ganz zur Fast Food-Stimmung passen, und wer genauer hinsieht, merkt auch, warum. Es sind die Stufen, die zum Garten des alten Grand Hotels hinaufführen, zum Grand Hotel Locarno, das wie der Traum einer andern Zeit im Hintergrund steht, umgeben von Zypressen, Palmen und üppigen Rhododendronbüschen, mit seiner mächtigen Mittelterrasse, auf der zwischen Säulen mit Blumenschalen Figuren zu Stein erstarrt sind, als sei soeben die Tanzmusik eines Kurorchesters zu Ende gegangen.
Wollen Sie weitergehen zur Piazza Grande, oder haben Sie einen Moment Zeit, eine Geschichte zu hören, die in diesem Hotel ihren Anfang genommen hat?
Erfahren habe ich sie in einem Gebäude, das aus derselben Zeit stammt und dem Grand Hotel nicht einmal unähnlich sieht, einem Altersheim
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