Der Geisterfahrer
sie der kleine Ernesto an den Bahnhof begleite oder ihnen den Tee aufs Zimmer bringe. Dies blieb im Hotel nicht unbemerkt, und nach drei Jahren teilte man mich zum Etagendienst ein und stellte mich von Zeit zu Zeit sogar als Aushilfskellner an. Und an zwei Abenden im Monat hörte ich an unsern Versammlungen, wie Genosse Lenin Russland umkrempelte, wie aber in München die Räterepublik gescheitert sei und dass uns das eine Warnung sein solle, wie schwer es die Revolution bei uns habe.
Und dann, auf einmal, kam die Weltgeschichte nach
Locarno. Im Herbst 1925 versammelten sich die Ministerpräsidenten von halb Europa ausgerechnet hier, im Tessin, um über die Folgen des 1. Weltkriegs zu diskutieren. Soviel ich verstand, ging es vor allem darum, Deutschland wieder zu einem normalen Mitglied Europas zu machen. Dass Deutschland dies noch nicht war, merkten wir daran, dass alle Delegationen außer der deutschen bei uns im Grand Hotel logierten, die Engländer, die Franzosen, die Italiener, die Belgier und, warten Sie, ja, die Tschechen waren auch da, die kamen etwas später, Herr Benesch und seine Frau, die immer einen Strohhut trug, und die Polen.
Ganz Locarno war aus dem Häuschen in diesen vierzehn Tagen. Zwei- bis dreihundert Journalisten rannten jeden Tag zum Palazzo di Giustizia, wo die Sitzungen stattfanden und wo sie nicht hineindurften, und dann ins Grand Hotel zu den Pressekonferenzen, wo sie auch nichts erfuhren, und dann zum »Bankverein«, wo sie telefonieren und telegrafieren konnten. Politiker, deren Namen man nur aus der Zeitung kannte, waren plötzlich leibhaftig zu sehen, der deutsche Stresemann mit seiner leuchtenden Glatze trank abends auf der Piazza Grande sein Bier, der Franzose Briand, klein und etwas gebeugt, ging einmal ins Kino, Chamberlain, den Briten, sah man mit seiner Frau am Lido spazieren, und wir im Grand Hotel hatten sie natürlich alle von ganz nahe, am Frühstückstisch oder beim Diner, und das Personal schuftete von morgens früh bis abends spät, und keiner durfte fehlen. Einmal fing mich der Küchenchef kurz vor zwölf auf der Hintertreppe ab, als ich todmüde in mein Zimmer gehen wollte, und ich musste ihm helfen, Brötchen zu streichen, die ich dann zu
einer mitternächtlichen Pressekonferenz bringen musste, und ich bekam mit, wie Grandi, die rechte Hand Mussolinis, allen italienischen Journalisten drohte, wenn morgen auch nur ein Wort vom Vertragsentwurf in einer ihrer Zeitungen stehe, werde diese sofort verboten. Und dann durfte ich den Journalisten meine Brötchen servieren, und Luigi, ein zweiter Aushilfskellner, schenkte ihnen Champagner ein. So lernte ich, was Pressefreiheit heißt, und es wurde mir auch klar, weshalb der Drucker mit Empörung von den Faschisten sprach.
Nicht nur ganz Locarno war in Aufruhr, auch unsere kleine Zelle. Die Kommunisten, belehrte uns unser Drucker, seien strikte gegen diese Verhandlungen. Ein Deutschland, das wieder funktioniere, stärke die rechten und bürgerlichen Mächte in Europa, und dadurch werde der revolutionäre Umsturz erschwert. Diese Konferenz, so war die Meinung der Kommunisten, müsse deshalb sabotiert werden.
Wie ernst es ihnen damit war, erfuhr ich, als mich der Drucker nach unserer Versammlung kurz vor Beginn der Konferenz zurückbehielt und mir sagte, da ich im Grand Hotel arbeite, käme ich am nächsten an die Politiker heran, ohne Verdacht zu erwecken, und alle Genossen erwarteten von mir eine große Tat für die Weltrevolution. ›Was für eine Tat‹, fragte ich, und er öffnete eine Mappe, in der einige Stangen Dynamit lagen, und zeigte mir, wie man die Zündschnur entflammen musste. ›Sie ist auf 10 Sekunden berechnet‹, sagte er, ›damit niemand Zeit hat, zu fliehen‹
Ich erbleichte. ›Das heißt – ‹
›Ja, Ernesto, das heißt, dass dein Name in allen Geschichtsbüchern stehen wird. Die Piazza Grande wird Piazza Ernesto Tonini heißen. Klar?‹
›Klar, Chef.‹
›Proletarier aller Länder – ‹
› – vereinigt euch‹, murmelte ich und machte mich auf den Heimweg, mit der Mappe unter dem Arm, und da ich mittlerweile ein Einzelzimmer hatte, so groß wie eine bessere Besenkammer, versorgte ich sie einfach in meinem Koffer, den ich unter dem Bett verwahrte.
Ich hatte meinen Entschluss schnell gefasst. Mein Leben bis jetzt war hart und freudlos gewesen, Freunde außerhalb der Zelle hatte ich kaum, große Chancen, im Hotelbetrieb aufzusteigen, konnte ich mir nicht ausrechnen, vermissen würde mich
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