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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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niemand, dafür würde mein Name um die Welt gehen, und meine Geschwister würden später auf einem Platz mit dem Namen ihres Bruders eine Limonade trinken können.«
     
    Ernesto Tonini hielt inne und fragte mich, ob ich ihm das Teeglas vom Nachttischchen reichen könne, und als er es in der Hand hatte, trank er es in wenigen Schlucken leer und fuhr sich mit der Zunge über die vertrockneten Lippen.
    Ich schenkte ihm aus dem Teekrug noch ein zweites Glas ein, aber er winkte ab und fuhr in seiner Erzählung fort.
     
    »Die Konferenz begann, und die Frage war, wo ich möglichst viele Teilnehmer aufs mal treffen könnte. Eine der
wenigen Sicherheitsmaßnahmen im Hotel war, außer dass man die Befestigung des Kronleuchters geprüft hatte, der in der Eingangshalle über die vier Stockwerke hinunterhängt, dass die Delegationen beim Diner möglichst weit voneinander entfernt saßen, also musste ich mir überlegen, auf welche der Delegationen ich das Attentat verüben wollte. Die wichtigsten in meiner Reichweite waren zweifellos die englische und die französische. Ich hatte mich schon für die englische entschieden, da Chamberlain der Vorsitzende der Konferenz war und da mir Madame Briand ein Trinkgeld gegeben hatte, als ich ihr einen Blumenstrauß vom Sindaco aufs Hotelzimmer gebracht hatte.
    Da bot mir der Zufall eine Gelegenheit, um die mich die Geschichte beneiden musste.
    Einer der wichtigsten Gäste, der in unserm Hotel ein-und ausging und vor dem alle stramm zu stehen hatten, war ein Franzose namens Loucheur. Er war ein Kapitalist aus dem Lehrbuch, der Drucker sprach seinen Namen mit Hass aus, wenn er von den Hungerlöhnen der Dampfschiffgesellschaft und der Centovallibahn sprach, denn beide gehörten Herrn Loucheur, und es hieß auch, es sei eigentlich sein Verdienst gewesen, dass die Konferenz gerade nach Locarno gekommen war. Nun ließ Monsieur Loucheur beim Confiseur des Hotels eine große Torte bestellen, die am nächsten Mittag auf sein Motorschiff »Fior d’arancia« gebracht werden musste. Auf diesem Motorschiff, so sickerte bald durch, sollten die Spitzenmänner der Konferenz zu einer Rundfahrt eingeladen werden, sodass sie in einer schöneren Atmosphäre miteinander diskutieren konnten.

    Eine reiche Tessiner Platte mit Merlot und grünem Veltliner sollte auf dem Tisch für 12 Personen bereitstehen, und später auf der Rundfahrt sollte dann zum Kaffee die große Torte serviert werden. Zu meiner Überraschung wurde ich dazu auserkoren, die Torte aufs Schiff zu bringen und dort dem Hauptkellner mit der Bedienung zur Hand zu gehen. Dies hatte einerseits mit einem großen Bankett am Abend zu tun, zu dessen Vorbereitung wieder einmal alle verfügbaren Kräfte mobilisiert wurden, andererseits spielte wohl auch eine Rolle, dass ich mich auf deutsch, englisch und französisch einigermaßen verständigen konnte.
    Ihr könnt euch vorstellen, dass ich wenig schlief in dieser Nacht, und ihr könnt euch vielleicht auch vorstellen, wie ich am andern Nachmittag das Dynamit auf das Schiff brachte. Die Torte war zweistöckig, und der Confiseur hatte mit Schlagsahne »Pace« und »Locarno« darauf geschrieben. Sie wurde in eine große Blechschachtel gestellt, die man mit Klammern verschloss, und als ich sie aus der Küche trug, ging ich damit zuerst in mein Zimmer, öffnete sie und schob die Dynamitstangen so weit in die Kuchenmasse, dass die Zündschnur noch herausschaute. Dann schloss ich die Schachtel wieder und trug sie wie eine Monstranz den kurzen Weg zur Anlegestelle hinunter, wo mich der Hauptkellner schon erwartete. Da der Raum im kleinen Schiffssalon sehr knapp war, hatte er für die Torte einen Platz unter einem Sitz des Hinterdecks vorgesehen, was auch den Vorteil hatte, dass sie kühler blieb, es war immerhin schon Mitte Oktober. Ich verstaute sie also dort und nahm nachher mit halbem Ohr
seine Anweisungen für die Bedienung entgegen. Hauptsache, ich spürte die Streichhölzer in meiner Tasche. Ich war bereit, die Weltgeschichte sollte kommen.
    Und als die Minister und hohen Sekretäre nun einer nach dem andern nichtsahnend das Schiff betraten, das sie in den Tod führen sollte, und von Herrn Loucheur begrüßt wurden, Chamberlain, Briand, Stresemann, Luther, Sciaiola und wie sie alle hießen, und das Schiff dann ablegte und in Richtung Luino fuhr und sie nach ihren Broten und der Coppa und den Salamischeiben griffen und mit ihren Weißweingläsern anstießen und immer wieder das Wort »Völkerbund« hören

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