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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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Ihr schien, in der abgestandenen Luft, die nach Gummireifen, Ölflecken und Benzin roch, schwebe ein Pferdegeruch. Woher er kam, war nicht auszumachen, die Wagen der Dauermieter warteten auf ihren gewohnten Plätzen, und in der Hauswartecke standen wie immer der Schneepflug und der Laubbläser
    Vielleicht, dachte sie, bevor sie einstieg, ist jemand von den andern reiten gegangen und hat die Reitkleidung in seinen Wagen gelegt. Im Wegfahren versuchte sie sich die Mitbenützer der Garage auf einem Pferd vorzustellen, und der Einzige, der einen passenden Anblick abgab, war der Zahnarzt im zweiten Stock, von dem sie sich aber zu erinnern glaubte, dass er Jäger war. Sie nahm sich vor, ihn zu fragen, wenn sie ihn das nächste Mal sähe.
    Es war vielleicht eine Woche später, als ihr der Geruch erneut auffiel. Diesmal war er so stark, als sei ein schwitzendes Pferd von einem Ausritt zurückgekommen und habe noch ein paar Pferdeäpfel fallen lassen. Doch von einem Pferd war nichts zu sehen, geschweige denn von Pferdeäpfeln, und die paar Autos standen so ordentlich und langweilig wie immer auf den für sie bestimmten Rechtecken.

    Die Ärztin wunderte sich. Der Zahnarzt, den sie darauf angesprochen hatte, war kein Reiter, und ihm war der Geruch nicht aufgefallen. Während sie nach Hause fuhr, etwas in Eile, weil sich die Sprechstunden unerwartet in die Länge gezogen hatten und ihre zwei halbwüchsigen Töchter mit dem Nachtessen auf sie warteten, wie sie ihr mit einem SMS mitgeteilt hatten, stieg auf einmal eine starke Sehnsucht nach Pferden in ihr hoch.
    Als Gymnasiastin hatte sie oft in einem Reitstall ausgeholfen, um sich damit die Reitstunden zu finanzieren, von denen ihre Eltern nichts wissen wollten, zu gefährlich sei es und zu teuer, hatten sie gefunden, und warum sie nicht mit ihrer Freundin in die Ballettschule gehe, das sei doch auch etwas Schönes und passe viel besser zu einem Mädchen. Sie aber hatte Pferde gestriegelt, hatte ihnen das Zaumzeug abgenommen oder angelegt, ihre Beine abgespritzt, die Hufe gereinigt, den Mist auf die Karrette geladen und auf den Miststock gefahren, neues Stroh in die Boxen gestreut, die Krippen mit Heu gefüllt und dann den Pferden beim Kauen zugeschaut und sich mit ihnen wohl gefühlt, und dieses Wohlgefühl hatte sich nun mit dem Geruch bei ihr eingenistet wie ein Gast aus einer verloren geglaubten Welt. Sie dachte auch an die Stunden, die sie auf Pferden gesessen hatte, welche sie über Waldwege trugen oder entlang von Getreideäckern, an deren Rändern Mohn- und Kornblumen wuchsen, oder von einem Gehöft zum andern, wo die Hunde anschlugen, wenn der kleine Tross auftauchte, in dem sie mitritt, und während sie ihren Wagen von einer Ampel zur nächsten lenkte, kam ihr der ganze Verkehr wie ein Verrat an den Pferden vor. Jahrhundertelang waren sie
es gewesen, die dem Menschen halfen, sich schneller fortzubewegen, und die Erfindung des Benzinmotors hatte genügt, um das Pferd zum Hobby zu degradieren, und selbst ein Ausdruck wie Pferdestärke war zu einer Abkürzung verkommen, hinter der kein Mensch mehr die Zugkraft eines stampfenden Tieres vermutete. Mit heruntergekurbelter Scheibe vor einem Rotlicht stehend, versuchte sie sich einen Moment lang vorzustellen, alle diese heimkehrenden Einzelmenschen in ihren Autos säßen auf Pferden, und brach dabei in ein kurzes Gelächter aus, was ihr einen argwöhnischen Blick aus dem Nachbarwagen eintrug.
    Gegen Ende des Studiums hatte sie aufgehört zu reiten, es kamen die Jahre als Assistenzärztin, die Heirat, die Töchter, die Praxis, die Scheidung, und für den halben Tag in der Woche, den es dafür gebraucht hätte, fehlten ihr die Muße und die Energie, aber auch die Lust. Wieso erinnerte sie sich denn auf einmal mit solcher Heftigkeit an ihre Zeit mit den Pferden?
    Ich bin alt, schoss es ihr durch den Kopf, und dieser Gedanke erschreckte sie so, dass sie beinahe den Radfahrer übersehen hätte, der neben ihr geradeaus über die Kreuzung fuhr, auf welcher sie nach rechts abbiegen wollte.
    Aber als die ältere Tochter sie fragte, wieso sie so gut aussehe, nahm sie sich vor, sich so bald wie möglich nach einem Reitstall umzusehen.
    Der Hauswart übrigens, den sie am nächsten Tag auf den Geruch ansprach, als sie ihn in der Garage traf, blickte sie erstaunt an, und tatsächlich war nun im Benzin- und Reifengeruch nicht mehr das geringste Pferdearoma auszumachen.

    Die nächsten Wochen waren bis zum Äußersten angefüllt, Sabina

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