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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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werden. Sie erblickte nun auf einem bewaldeten Hügel über dem Mühlental eine Burg, auf der Wimpel und Fahnen flatterten, und als der Schimmel in den Wald hineinstürmte und den Pfad in Angriff nahm, der hinauf führte zu dieser Festung, packte sie seine Mähne, beugte sich zu seinem Kopf nieder und flüsterte ihm ins Ohr: »Beowulf, bitte!«, und zu ihrem Erstaunen brach er seinen Galopp ab und ging in den leichten Trab über, mit dem der Ritt begonnen hatte.
    Sie richtete sich im Sattel auf, aber es gelang ihr nicht mehr, sich den Bewegungen des Pferdes anzupassen, und sie wurde hin und her geschüttelt. Abzusteigen getraute
sie sich nicht, deshalb war sie sehr froh, als jetzt aus einem Wachthäuschen ein junger Mann in einem historischen Kostüm auf sie zukam, sie respektvoll, wenn auch kaum verständlich grüßte, den Schimmel am Halfter nahm und Ross und Reiterin im Tritt einen gewundenen Weg hinauf führte. Dieser endete vor einer heruntergelassenen Ziehbrücke, die einen Burggraben überquerte.
    Schon bevor sie die Brücke betraten, schrie der junge Mann: »Beowulf!« Innerhalb der Mauern wurde der Ruf weitergegeben, und als Sabina Christen auf dem Schimmel in den Burghof ritt, war dort eine große Bewegung, Menschen kamen aus verschiedenen Türen, Gesichter zeigten sich an den Fenstern des oberen Stockwerks, auf dem Wehrgang hob ein Behelmter freudig seine Armbrust in die Höhe, eine Waschfrau, die mit einer großen hölzernen Zange ein Leintuch aus einem dampfenden Trog hob, ließ dieses wieder fallen; der Knappe bat die Reiterin nun mit einer Geste, abzusteigen, was sie auch tat, ein Kind zeigte kreischend auf ihre Hose und bekam sofort eine Ohrfeige von einem Erwachsenen, und der Mann, der nun auf sie zutrat, war offensichtlich der Burgherr, der in einem Dialekt, den sie noch nie gehört hatte, sagte, sie hätten auf sie gewartet und man werde sie sofort zu seiner Tochter bringen.
    Die Ärztin war aufs Höchste verwirrt und beunruhigt. Nicht nur hatte sie keine Ahnung, wo sie hingeraten war und was hier gespielt wurde, es wurde auch noch etwas erwartet von ihr. Da sie neben dem Ziehbrunnen stand, bat sie um einen Schluck Wasser, den ihr der Knappe auch sofort in einem Zinnbecher aus dem Eimer auf dem Brunnenrand
schöpfte. Die kleine Pause, die man ihr zum Trinken gewährte, nutzte sie, um die Menschen zu mustern, die in einem Halbkreis um sie herumstanden. Kein Einziger, der nicht historische Kleidung trug, und keiner, dessen Blick auch nur einen Hauch von Scherzhaftigkeit und Mummenschanz erkennen ließ, im Gegenteil, alle blickten sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Ehrerbietung an, wie sie das von Hausbesuchen bei Schwerkranken kannte, und da wurde ihr klar, dass sie, aus welchem Grund auch immer, als Ärztin hierher geholt worden war.
    »Danke«, sagte sie, gab den Becher zurück und fragte dann den Burgherrn, wo seine Tochter sei. Zwei Frauen mit Kopfhauben und langen Röcken, über welche sie Schürzen gebunden hatten, nahmen sie in die Mitte und gingen zuerst durch eine schmale Pforte in einen engen Vorraum und dann eine Wendeltreppe hinauf. Nun öffnete die Erste eine große, eisenbeschlagene Türe, neben der sich eine Dienerin ängstlich verbeugte, und bat sie in einen Raum, in dem zwei Mägde neben einem Holzzuber mit heißem Wasser knieten. Vor einer Kommode stand eine leere Wiege, auf der Kommode lagen eine Schere und ein Garnknäuel, ein vielarmiger Kerzenständer warf ein unruhiges Licht auf ein Himmelbett, und in diesem Himmelbett lag eine schwer atmende blutjunge Frau mit rötlichen Haaren in den Geburtswehen.
    Sabina trat ans Bett, legte der Frau die Hand auf die heiße Stirn, schaute ihr ins Gesicht, das voller Sommersprossen war, und fragte: »Wie geht’s?«
    Diese antwortete nicht und blickte sie nur mit weit aufgerissenen
Augen an. Dann beugte sie sich unter der Decke auf, und ein tiefes Stöhnen brach aus ihr heraus.
    »Das erste Kind?«, fragte Sabina, und die junge Frau nickte.
    »Ich bin Sabina«, fuhr sie fort, »und wie heißt du?«
    »Mechthild«, flüsterte die Frau und stöhnte wieder auf.
    Nun schlug Sabina die schwere Decke zurück, aber als sie auch das Nachthemd der Frau zurückstreifen wollte, hielten es die beiden Frauen, die sie heraufgebracht hatten, fest und schauten sie an, als wolle sie einen Frevel begehen.
    »Also«, sagte sie darauf, »ich bin die Ärztin. Ist das klar?« Unwillig ließen die beiden das Hemd los, und Sabina rollte es der Gebärenden bis

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