Der Geisterfahrer
Christen besuchte eine Fortbildungstagung und musste dadurch Überstunden in ihrer Praxis leisten, sodass sie gar nicht daran denken konnte, sich mit der Suche nach einem geeigneten Reitstall zu beschäftigen, und den Pferdegeruch in der Garage hatte sie fast wieder vergessen.
Umso erstaunter war sie deshalb, als sie eines Abends, gerade als sie die Tür zur Tiefgarage öffnen wollte, ein Wiehern hörte. Sie hielt einen Moment inne und fragte sich, ob sie einer Täuschung erlegen sei, da ertönte das Wiehern ein zweites Mal. Vorsichtig drückte sie die Klinke, öffnete die Tür einen Spalt weit, und da sah sie den Schimmel. Er stand dort, wo sie glaubte, am Morgen ihr Auto hingestellt zu haben, und schaute gegen die Wand, aber als sie die Tür jetzt ganz öffnete, drehte er den Kopf mit einer schnellen Bewegung in ihre Richtung, was seine lange Mähne zum Flattern brachte, und stieß erneut ein Wiehern aus, ein Wiehern, das geradezu stürmisch klang.
Die Ärztin stellte ihre Tasche neben der Türe ab, näherte sich behutsam dem Pferd, legte ihre Hand auf seine Kruppe und fragte es: »Wo kommst denn du her?«
Die Nähe der Frau schien das Pferd etwas zu beruhigen, es gab sich mit langsamen Halsbewegungen dem Kraulen der Mähne hin, zu dem Sabina jetzt ansetzte. Es war ein wunderschöner Schimmel, ein Wallach, und er trug ein Zaumzeug und einen Sattel, dessen Bogen ungewöhnlich hoch war.
Jetzt war ihr, sie höre den Hauswart draußen vor der Garage hantieren, und sie drückte auf die Fernbedienung
an ihrem Schlüsselbund, den sie schon in der Hand hatte. Mit einem brummenden Geräusch öffnete sich das Kipptor, sie trat vor die Einfahrt, sah aber niemanden.
»Herr Jordi!«, rief sie und schaute sich um, »Herr Jordi! Was ist mit dem Pferd in der Garage?« Da stieß sie der Schimmel von hinten mit der Schnauze in die Seite, dass sie fast hingefallen wäre.
»Willst du wohl?«, sagte sie und packte ihn am Zaumzeug.
Als der Schimmel nun ganz leicht seinen Kopf an ihrer Hüfte rieb, ging ihr ein Gedanke durch den Kopf, der sie lächeln machte. Sie blickte an sich herunter und musterte ihre Halbschuhe. Die waren solid genug, hatten sogar ein Luftpolster in den Sohlen wegen ihrer gelegentlichen Rückenschmerzen. Sie trug Hosen, hatte über ihrer Bluse eine leichte Jacke an, es war ein warmer Frühsommerabend, und sie war etwas eher fertig geworden, also könnte sie so, wie sie dastand, einen kleinen Ausritt wagen. Ihre Praxis war am Stadtrand gelegen, und zwei Straßen weiter führte eine Abzweigung zum Rand des Burgerwaldes.
Als hätte der Schimmel ihre Gedanken erraten, setzte er sich langsam in Bewegung, schritt, von der Ärztin am Halfter geführt, die Einfahrt hoch, folgte ihr über das Trottoir der Hauptstraße und bog dann mit ihr in die Burgerwaldstraße ein. Seine Huftritte hallten zuerst von zweibis dreistöckigen Wohnblöcken wider, später wurden sie von Rasenmähern übertönt, die zwischen Einfamilienhäusern mit Wagenrädern, Gartenzwergen und Froschbiotopen wüteten. Aus einem der Gärten winkte ihr eine Frau
mit einer Rasenkantenschere zu: »Hallo, Frau Doktor, ich wusste gar nicht, dass Sie reiten!«
Sabina Christen erschrak. Frau Brunner, eine Patientin von ihr. »Nur selten«, antwortete sie, ohne anzuhalten.
»Ein Prachtspferd!«, rief ihr die Frau nach, »wie heißt es?«
»Beowulf!«, rief die Ärztin zurück, indem sie sich mit ihrem Schimmel entfernte, ohne zu wissen, woher ihr dieser Name gekommen war.
»Hast du gehört?«, sagte sie zum Pferd, »Beowulf!« Sie lachte, und als es jetzt schnaubend den Kopf in die Höhe warf, war sie so vergnügt, als hätte ihr ein Liebhaber ein heimliches Treffen vorgeschlagen.
Das letzte Haus lag hinter ihr; nach einer kleinen Brücke, an der ein Weidenbaum stand, ging die asphaltierte Straße in einen Feldweg über, der auf den Burgerwald zulief. Die Ärztin blieb stehen, und mit ihr der Schimmel. Sie prüfte den Sattelgurt an seinem Bauch und beschloss, ihn etwas enger anzuziehen, was der Schimmel ohne Weiteres geschehen ließ. Die Gürtelschnalle sah aus, als wäre sie aus purem Silber. Unternehmungslustig steckte sie sich eine abgebrochene Weidenrute, die am Boden lag, in den Gürtel, das gab ihr so etwas wie ein Jockeygefühl.
»Also, Beowulf«, sagte sie dann, »probieren wir’s mal zusammen?«
Sie setzte den linken Fuß in den Steigbügel, schwang sich leicht wie ein junges Mädchen in den Sattel, fand sofort mit dem rechten Fuß den andern
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