Der Geisterfahrer
Frauen schauten ihm nach, bis er zu einem weißen Fleck wurde und im Wald verschwand.
»Er kennt den Heimweg«, sagte Sabina, bevor ihre Patientin eine Frage stellen konnte.
Ob sie ihr einen alten Mantel leihen und ein Taxi rufen könne, war ihre letzte Frage, dann brach sie zusammen.
Der Aufenthalt in der Rehabilitationsklinik dauerte vier Wochen. Ein Kreislaufkollaps war die Diagnose, mit Überlastungssymptomen, wohl eher psychosomatischer Art, der
Arzt, der sie behandelte, empfahl ihr, die Hilfe eines Psychiaters oder einer Psychologin in Anspruch zu nehmen.
»Ich glaube, was ich brauche, ist eher ein Historiker«, sagte Sabina, die im Übrigen beschloss, niemandem zu erzählen, was sie erlebt hatte. Sie wusste zu gut, dass wer so etwas erfahren zu haben behauptete, für das herkömmliche Leben verloren war. Nach genauem Studium der Landkarten im Radius eines längeren Galopps sowie eines Burgenbuches schien ihr dann, dass der Ort der schweren Geburt am ehesten die Echsenburg gewesen sein könnte; die Senke zu Füßen der Ruine hieß heute noch Mühletal.
Als sie überlegte, an wen sie sich wenden könnte, fiel ihr ihr alter Primarlehrer ein, der ihnen immer begeistert die Schweizer Geschichte erzählt hatte und in der Lage war, jede Burgruine im Labyrinth von Habsburgern, Zähringern und Kyburgern dorthin zu setzen, wo sie hingehörte.
Er freute sich, als sie ihn anrief und um Auskunft bat und fragte sie natürlich gleich, warum sie denn darüber etwas wissen wolle, worauf sie vorbereitet war und vielsagend antwortete, aus sentimentalen Gründen. Er brauchte nur eine Viertelstunde, bis er zurückrief.
»Also«, sagte er dann, »die Echsenburg, Ende des 14. Jahrhunderts nach der Schlacht von Sempach von den Eidgenossen zerstört und nie wieder aufgebaut, gehörte den Herren von Echsenburg, die mit den Frohburgern verwandt waren, und der damalige Herr war der Letzte seines Geschlechts, in Sempach ums Leben gekommen, er hatte keinen guten Ruf, war wohl ein Raubritter, in einer Chronik ist er sogar abgebildet, sieht ziemlich grimmig aus, mit einem stark vorstehenden Kinn.«
»Und die Mutter? Weiß man etwas von seiner Mutter?«
Der Lehrer dachte einen Moment nach und sagte dann: »Nein. Was wissen wir schon von den Müttern?«
Die Mönchsgrasmücke
J edes Jahr, wenn der April zu Ende ging, stand der Mann einmal im Tag auf dem Balkon und lauschte. Er bewohnte ein altes Mehrfamilienhaus in der Vorstadt, und Leute, die ihn besuchten, waren immer wieder überrascht, wieviel Bäume und Sträucher in dem Garten darum herum Platz fanden, oft fielen Ausdrücke wie »Oase« oder »verwunschen«. Als der Mann mit seiner Familie vor einem Vierteljahrhundert hier eingezogen war, war ihm bald klar geworden, dass dieser Garten mehr Zuwendung verlangte, als er aufbringen konnte, und er und seine Frau beschlossen, ihm nur eine minimale Pflege angedeihen zu lassen und ihn im Übrigen seinem eigenen Wachstum anzuvertrauen, was in der Sprache der Ordnungliebenden hieß: Sie ließen ihn verwildern. Zwar pflanzten sie einen Kirschbaum, einen Zwetschgenbaum, einen Apfelbaum, ein Schattenmorellenspalier, einen Stachelbeerenbusch, aber durch das Wachsen der Hecken, der Kastanie, des Ahornbaumes und der Holunderbüsche fielen längere Schatten auf die Rosenbeete, auf denen mit der Zeit Zitronenmelisse, Waldmeister, Taubnessel und Walderdbeeren überhand nahmen.
Die Vögel wussten es zu schätzen. Blau- und Kohlmeisen besuchten die Balkone, Spatzen tschilpten im Gebüsch beim Gartentor, Buchfinken trällerten, Amseln sangen auf
dem Turm, der das Haus krönte, der Specht klopfte die Rinden der großen Birke nach Würmern ab, Rotschwänzchen turnten in deren Gezweig herum, der Kleiber lief kopfüber den Stamm hinunter, in der Krone der riesigen Buche zankten sich die Elstern mit den Krähen, und jedes Jahr, das freute den Mann besonders, war der schnelle Gesang der Mönchsgrasmücke zu hören.
Ab und zu sah er sie auch, vor allem im Frühling, wenn das Laub noch nicht so dicht war, wie sie auf der Birke zwitschernd von Ast zu Ast flatterte, mit ihrem schwarzen Fleck auf dem Kopf. Wo sie nistete, fand er nie heraus, es war ihm auch nicht so wichtig, doch Jahr für Jahr merkte er, dass er das Eintreffen der Mönchsgrasmücke wie eine gute Nachricht empfand.
Der Vogel aber wusste nichts von seinem Namen. Er wusste nur, dass er nach langen nächtlichen Flügen dort angekommen war, wo es ihn hingezogen hatte, dort, wo er sich
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