Der Gejagte
wolle er nach all der Zeit noch immer ausprobieren,
wozu sein Körper im Stande war. Andrej verstand nicht, was sein
Gefährte mit diesem Verhalten bezweckte. Nicht nur, dass es leichtsinnig und überflüssig war. Er kannte den Nubier lange genug, um zu
wissen, dass dieser kein Vergnügen an Schmerzen empfand.
»Sie haben uns gefunden«, sagte Abu Dun schließlich noch einmal.
Diesmal widersprach Andrej nicht. Welchen Sinn hätte es auch gehabt? Er wusste nur zu gut, dass der Nubier Recht hatte. Abu Dun
und er befanden sich auf der Flucht. Nicht nur vor den Truppen des
Sultans; sie wurden auch von der Inquisition verfolgt. Darüber hinaus hatten sie immer wieder erleben müssen, wie gewöhnliche sterbliche Menschen unweigerlich zu ihren Feinden wurden, sobald sie
erfuhren, wer sie wirklich waren. Vor allem aber waren sie auf der
Flucht vor Geschöpfen ihrer eigenen Art. Dies war einer der Gründe,
weshalb sie niemals lange an einem Ort blieben und sich normalerweise von allen Menschen fern hielten.
Andrej galt selbst unter den Rittern von Malta, die wenig Wert auf
Freundschaft und Intimität legten, als Eigenbrötler. Dasselbe galt für
Abu Dun, der nicht in der Festung, sondern in einem kleinen Haus an
der Steilküste unweit davon lebte und die Menschen mied, so gut er
konnte. Sie führten dieses unstete Leben seit vielen Jahrzehnten. Dabei waren die drei Jahre, die sie inzwischen auf Malta verbracht hatten, die ruhigste und friedlichste Zeit gewesen, an die er sich erinnern
konnte. Aber vielleicht war das nun vorbei.
Eine Mischung aus Trauer und Zorn auf das Schicksal, das sie beide zu einem Leben als ruhelose Wanderer und Gejagte verdammt
hatte, überkam Andrej. Es war lange her, dass er mit eigener Hand
eine ganze Sippe seines Volkes ausgelöscht hatte. Seither lebte er das
Leben eines Verfluchten. Vampyre vergaben nie. Abu Dun und er
waren Ausgestoßene unter Ausgestoßenen, zwei Männer, die sich
nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor ihren eigenen Brüdern
und Schwestern verstecken mussten. Hatte er am Anfang noch gehofft, dass die Jagd auf sie irgendwann einmal ein Ende haben würde, so hatte er doch mittlerweile eingesehen, dass diese Hoffnung
trügerisch war. Vampyre waren unsterblich und ihr Gedächtnis währte ewig.
»Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte er mehr an sich selbst gewandt als an den anderen. »Aber vielleicht hält er uns ja auch für
tot.«
»Sicher.« Abu Dun lachte rau. »Und vielleicht begibt sich der Papst
im nächsten Sommer auf eine Pilgerfahrt nach Mekka.« Er bedachte
Andrej mit einem mitleidigen Blick. »Sie wissen jetzt, dass wir noch
leben, Andrej. Und sie werden uns finden. Es ist nicht besonders
schwer, sich auszurechnen, woher die beiden Spione gekommen
sind.«
»Was genau willst du damit sagen?«, fragte Andrej schließlich.
»Dass die fetten Jahre vorüber sind«, antwortete Abu Dun mit einem säuerlichen Grinsen. »Wir sollten Malta verlassen.«
»Kann schon sein«, erwiderte Andrej. Er stand auf. »Aber um es zu
verlassen, müssen wir es erst einmal erreichen«, fuhr er mit veränderter Stimme fort. »Komm. Suchen wir das Schiff. Wir haben noch
einen weiten Weg vor uns. Zeit genug, um über alles zu sprechen.«
Nach zwei Wochen auf See erschien ihnen der Anblick der Felsenküste, die in der schon tief stehenden Nachmittagssonne schimmerte
wie zerschrammtes Eis, wie ein Paradies inmitten der endlosen Wasserwüste des Mare Mediterraneum. Es war nicht ihre raue Schönheit,
die die Insel seit Menschengedenken zu einer verlockenden Beute für
die verschiedensten Völker gemacht hatte, sondern ihre strategische
Lage, aber daran dachten Andrej und Abu Dun nicht, als ihre derzeitige Heimat Malta endlich in Sicht kam.
Die schmutzig weißen und dunkel-goldfarbenen Felsen, die die
Bucht einrahmten und zu einer natürlichen Festung werden ließen,
wie sie kein Baumeister perfekter hätte ersinnen können, boten nur
der zähesten Vegetation Lebensraum. Der Großteil des kärglichen
Grüns, das in Felsspalten und Nischen dennoch Fuß gefasst hatte,
war den Menschen zum Opfer gefallen, wie fast überall, wo Mensch
und Natur aufeinander trafen und Anspruch auf das gleiche Stück
Lebensraum erhoben. Ein leichter Dunst lag über den Dächern der
Stadt wie eine Glocke - hochgewirbelter Staub und Rauch, der aus
den Kaminen der Häuser drang. Obwohl der Wind landeinwärts blies
und das Schiff mit straff geblähtem Segel auf den Hafen zujagte,
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