Der Gejagte
glaubte Andrej den Gestank wahrzunehmen, der mit diesem klebrigen Dunst einherging.
Doch das war ihm gleich. Nach vierzehn Tagen auf den Brettern eines winzigen Fischerbootes hätte er die frische Seeluft und das saubere Wasser gegen die Kloake einer Stadt wie Rom eingetauscht, nur
um endlich wieder festen Boden betreten zu können, der nicht unentwegt hin und her schwankte und sich immer genau in die Richtung zu neigen schien, mit der man am wenigsten rechnete und die
dem Magen die größte Unbill bereitete. Die zurückliegenden zwei
Wochen waren ihm wie zwei Jahre vorgekommen. Nicht nur, weil es
an Bord des Schiffes so gut wie nichts zu tun gab und er mehr als
einmal das Gefühl gehabt hatte, vor lauter Langeweile sterben zu
müssen. Nein, er war nicht für das Meer geboren. In seinen Adern
floss eindeutig Blut, kein Salzwasser. Bei dem Nubier schien das
anders zu sein.
»Du siehst erleichtert aus«, sagte Abu Dun, der neben ihm stand
und mit dem großen Segel hantierte, um das Boot auf Kurs zu halten
- und das mit einem Geschick, um das Andrej ihn insgeheim beneidete. Selbst nach all den Jahren, die sie nun zusammen waren, dachte
Andrej spöttisch, war der Nubier immer noch für eine Überraschung
gut.
»Das bin ich auch«, gestand er mit einem sehnsüchtigen Blick auf
das nur langsam näher kommende Land. »Jetzt sag mir nicht, dass du
dich nicht auch freust, deine Familie wieder zu sehen.«
»Selbstverständlich freue ich mich«, erwiderte Abu Dun in beleidigtem Ton. »Welcher Mann täte das nicht? Vor allem nach dem,
was wir erlebt haben.« Er zurrte ächzend einen Knoten in dem verwirrenden Durcheinander aus Tauen und Seilen fest, mit dem er sich
in der zurückliegenden halben Stunde beschäftigt hatte, begutachtete
kurz und kritisch sein Werk und nickte dann, bevor er fortfuhr: »Du
solltest auch heiraten, Andrej. Eine Familie gibt einem Mann immer
einen guten Grund, nach Hause zu kommen.«
Andrej tat ihm zwar den Gefallen zu nicken, aber er hatte sich wohl
doch nicht so gut in der Gewalt, wie er geglaubt hatte, denn Abu Dun
hielt kurz in seinem Tun inne und sah ihn fast erschrocken an. Dann
zuckte er mit den breiten Schultern und fuhr damit fort, Knoten zu
entwirren.
Obwohl sie in den vergangenen Wochen nichts anderes zu tun gehabt hatten, als sich zu unterhalten, hatten sie dieses Thema tunlichst
vermieden. Wenn es nach Andrej gegangen wäre, so hätte sich daran
auch nichts geändert. Sicher, der Nubier kam nach Hause. Aber nur,
um dieses Zuhause wieder zu verlassen - und diesmal nicht für ein
paar Wochen oder Monate, sondern für immer.
Er schob den Gedanken von sich und drehte sich mit einer unmissverständlichen Bewegung weg, um seinen Blick über die Hafenbucht
schweifen zu lassen und sich auf das vor ihm Liegende zu konzentrieren: einen Kampf, der auf seine Weise ebenso schwer und bedeutungsvoll sein würde wie der, den sie in Konstantinopel ausgetragen
hatten.
Umschlossen von goldfarbenen Felsen, war die Bucht unverwechselbar. Kein anderer Hafen im Mittelmeer glich der letzten Zuflucht
der Johanniter. Mittlerweile war dieses kleine Stückchen Felsen und
Erde inmitten des Meeres zu so etwas wie einer Heimat für Abu Dun
und ihn geworden.
Als Andrej drei Jahre zuvor zum ersten Mal dorthin gekommen
war, war er ein Suchender gewesen. Heimatlos, getrieben von seinem
Fluch und der Sorge, eines Tages so zu enden wie Frederic, sein
einstiger Ziehsohn, der zu einer durch und durch bösen Kreatur geworden war.
Der Rückblick ließ ein dünnes, bitteres Lächeln auf seinen Lippen
erscheinen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sich eingebildet, er
könne seinen Erinnerungen entkommen. Nachdem er Transsylvanien
verlassen hatte, jenes Land, in dem er so viel gefunden und noch
mehr wieder verloren hatte, hatte es eine Zeit gegeben, in der er den
Tod regelrecht gesucht hatte. Abu Dun und er hatten sich verschiedenen Heeren angeschlossen, sich als Söldner verdingt oder freiwillige Milizen geführt. Kein Kampf war ihnen zu aussichtslos erschienen, kein Feind zu gefährlich, keine Gefahr zu groß. Es hatte langer,
endlos langer Jahre bedurft, ihn aus diesem selbstzerstörerischen
Blutrausch aufzuwecken. Er konnte nicht davonlaufen. Nicht vor
dem, was geschehen war, und schon gar nicht vor sich selbst.
Mittlerweile war ihm Malta zu einer neuen Heimat geworden. Abu
Dun hatte dort sogar etwas gefunden, das er selbst wahrscheinlich am
allerwenigsten erwartet
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