Der Gejagte
Flotte. Eher -
die Katastrophe.
Andrej war von dem, was er gesehen hatte, viel zu schockiert gewesen, um auf den Gedanken zu kommen, die Schiffe zu zählen.
Aber Abu Dun hatte es getan und sich später natürlich nicht den
Spaß nehmen lassen, seinem Gefährten genüsslich vorzurechnen,
was sie erblickt hatten: Einhundertdreißig Rudergaleeren, dreißig
Galeassen, die allein jeweils eintausend Mann transportieren konnten, und die elf größten Handelsschiffe, die sie jemals gesehen hatten, lagen dort vor Anker. Ganz zu schweigen von einer Vielzahl
kleinerer Boote, die die Flotte begleiten würden.
Und doch war es weder die Zahl der Schiffe noch die der Soldaten,
die darüber entscheiden würde, ob Malta, der letzte Rückzugsposten
der Johanniter, in diesem Sommer erobert werden würde. Der Großmeister hatte Andrej und Abu Dun geschickt, um einen Blick in die
Zukunft zu werfen. Genauer gesagt: Auf das Ausmaß an Gefahr und
Zerstörung, das diese Zukunft für seinen Orden bereithielt.
Die Johanniter hätten keine Spitzel schicken müssen, um sich einen
Überblick über die Größe der feindlichen Flotte oder des gegnerischen Heeres zu verschaffen. De La Valette verachtete Spionage und
Verrat im Grunde seines Herzens ebenso sehr wie Andrej. Aber es
gab Gerüchte. Gerüchte von neuen, vernichtenden Schusswaffen, die
den Türken zur Verfügung standen. Deren Kugeln das Gewicht von
fünf Männern hatten und die somit in der Lage sein sollten, selbst die
gewaltigsten Mauern einer Festung zu durchschlagen. Gerüchte, die
in letzter Zeit zahlreicher und beunruhigender - und vor allem glaubhafter - geworden waren, und die nicht nur Jean Parisot de la Valette,
dem Großmeister der Johanniter, schlaflose Nächte bereiteten. Gab
es diese neuen Geschütze wirklich, und konnten die Türken sie in
ausreichender Zahl herbeischaffen, dann war es nur noch eine Frage
der Zeit, bis die Bollwerke der Ordensfestung auf Malta in Trümmern liegen würden. De la Valette hatte Andrej nach Konstantinopel
geschickt - nein, verbesserte sich Andrej in Gedanken: Er hatte ihn gebeten, sich mit eigenen Augen zu überzeugen.
Das war nun geschehen, und Andrej würde keine guten Nachrichten
nach Malta zurückbringen…
Die meisten Geschütze waren bereits verladen gewesen, aber Andrej hatte dennoch etliche gesehen, die gewaltig und mehr als zehn
Tonnen schwer waren. Es gab nicht vieles auf der Welt, was ihm
Angst machte, aber diese monströsen Ungeheuer aus Bronze, Eisen
und Holz gehörten eindeutig dazu.
Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Vermutlich vergingen in Wahrheit nicht mehr als drei oder vier Minuten, bis die
Wache zurückkam, aber Andrej kam es vor wie drei oder vier Ewigkeiten. Dennoch drehte er sich betont langsam herum und sah dem
Wachtposten und dessen Begleiter mit einer genau berechneten Mischung aus Ungeduld und mühsam zurückgehaltenem Zorn entgegen. Abu Dun begann unruhig von einem Fuß auf den anderen zu
treten. Andrej schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihr Verhalten nicht zu auffällig war. Mit einer selbstbewussten Bewegung ließ
er die rechte Hand auf den Schwertgriff an seinem Gürtel sinken und
trat dem Neuankömmling entgegen.
Der Fremde schien von seiner Geste nicht sonderlich beeindruckt
zu sein. Sein dunkles, von einem pedantisch ausrasierten Bart und
sehr aufmerksamen, fast schwarzen Augen beherrschtes Gesicht
zeigte nicht die geringste Regung, als er vor Andrej stehen blieb und
zuerst ihn, dann den fast zwei Meter großen, schwarzgesichtigen
Koloss mit einem raschen Blick musterte - einem Blick, in dem sehr
wenig Respekt, aber dafür ein umso größeres Maß an Misstrauen zu
erkennen war.
»Wer seid Ihr?«, fragte er knapp.
Andrej nahm die Hand vom Schwert und stellte sich mit einer graziösen Geste vor: »Ich bin Yussuf Ibn Sair.« Ein Name, den er sich
in eben diesem Augenblick ausgedacht hatte, und von dem er hoffte,
dass er hinlänglich überzeugend klang. »Ich bin im Auftrag des
Großwesirs hier. Ich soll die Fracht- und Bestückungslisten der Flotte einsehen. Hat man Euch nicht informiert?«
»Davon ist mir nichts bekannt«, antwortete sein Gegenüber. Er
klang keineswegs beeindruckt, sondern eher noch misstrauischer als
zuvor. »Die Kopien der Listen sind doch schon gestern…«
»Eben wegen dieser Kopien bin ich hier«, fiel ihm Andrej ins Wort.
»Es gab gewisse… Differenzen.«
»Das ist nicht möglich«, antwortete der Offizier überzeugt. »Wir
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