Der Gejagte
der Stunde, die sie im Halbdunkel des Zeughauses verbracht hatten, erschien ihm das Sonnenlicht, das über dem Vorplatz lag, unnatürlich grell, sodass er blinzeln
musste und die Männer rechts und links der Tür nur als verschwommene Schatten erkennen konnte. Dennoch spürte er, dass ihn zumindest einer dieser Schatten anstarrte, und er hatte auch eine ziemlich
konkrete Vorstellung davon, um wen es sich handelte. Sein Herz
begann zu pochen. Er musste an sich halten, um seine Schritte nicht
zu sehr zu beschleunigen, damit nicht auch noch der Letzte merkte,
dass sie aus der ehemaligen Kathedrale flohen. Verdammt, was war
nur mit ihm los?
Aber das Wunder geschah. Sie wurden weder angesprochen noch
auf irgendeine andere Art zurückgehalten, verließen unbehelligt das
Arsenal und passierten auch das Tor des Reiches. Sie hatten den
Vorplatz der Hagia Sophia schon fast vollständig überquert, als sie
hinter sich Hufschlag hörten. Es war nur ein Geräusch in einem ganzen Chor verschiedenster Laute, und doch war etwas Besonderes
daran. Ein Gefühl von Endgültigkeit breitete sich in Andrej aus, das
er nur zu gut kannte. Er blieb stehen, warf Abu Dun einen warnenden
Blick zu und drehte sich langsam um.
Ein einzelner Reiter sprengte hinter ihnen durch das Tor.
Im ersten Moment war Andrej irritiert, dann erkannte er ihn - es
war der Offizier, der sie vorhin so misstrauisch kontrolliert hatte.
Noch klammerte sich Andrej an den Gedanken, dass dessen Erscheinen einen ganz banalen Grund haben könnte, etwa den, dass der
Dienst des Mannes endete und er in die Stadt ritt, um sich zu amüsieren. Aber natürlich war das nicht der Fall.
»Was…?«, begann Abu Dun, wurde aber erneut von Andrej mit einer Geste zum Schweigen gebracht.
»Still!«, sagte er. »Überlass mir das Reden… Und wenn irgendetwas passiert, dann rette dich«, fügte er nach einer winzigen Pause
hinzu. »Kümmere dich nicht um mich. Wir treffen uns am Hafen.
Wenn ich bis Sonnenaufgang nicht da bin, segelst du allein los. Umgekehrt gilt dasselbe. Die Nachricht ist zu wichtig. Der Großmeister
muss erfahren, dass eine gewaltige Flotte auf dem Weg nach Malta
ist. Sag ihm, dass sie genug Kanonen an Bord haben, um…«
Er brach ab, als er Abu Duns Blick registrierte. Der Nubier machte
sich nicht die Mühe zu antworten. Andrej glaubte in seinen Augen
allenfalls so etwas wie leise Verwunderung über seine Worte zu erkennen. Andrejs Vorschlag war vielleicht vernünftig, aber der Nubier
wusste so gut wie er, dass keiner von ihnen den anderen je im Stich
lassen würde - und schon gar nicht, um den Orden der Johanniter zu
retten. Abu Dun war jedoch klug genug, nichts zu sagen.
Andrej drehte sich mit einem Ruck wieder herum, als er spürte,
dass sich der Reiter ihnen auf Hörweite genähert hatte. Der Mann
schwang sich mit einem Satz aus dem Sattel, noch bevor sein Pferd
richtig zum Stehen gekommen war. Das Tier scheute unwillig und
entfernte sich ein paar Schritte, während der Offizier herausfordernd
auf Andrej und Abu Dun zuschritt. Sein Gesicht zeigte keine Regung, aber seine rechte Hand lag gewiss nicht zufällig auf dem Griff
seiner Waffe. Sein Blick streifte Abu Dun. In seinen Augen sah Andrej gehörigen Respekt, aber den empfand jeder, der dem annähernd
zwei Meter großen nubischen Koloss gegenüberstand.
»Auf ein Wort, Herr!«, rief der Offizier. Der Ton in seiner Stimme
strafte seine respektvollen Worte Lügen.
»Was gibt es denn noch?«, fragte Andrej. »Wenn es um die Papiere
geht, so kann ich Euch beruhigen. Der Fehler liegt ganz offensichtlich nicht bei Euch. Das werde ich auch dem Sultan berichten.«
»Dem Sultan?«
Andrej hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Aber der Fehler war
gemacht und ließ sich nicht mehr zurücknehmen.
»Der Sultan ist auf einem Fest des Großwesirs in der Stadt und
wünscht dort Einsicht in die Unterlagen zu nehmen«, sagte er. Eine
Behauptung, die selbst in seinen Ohren nach nichts anderem klang
als nach dem, was sie war: eine Ausrede, und nicht einmal eine besonders originelle.
Das Stirnrunzeln des Offiziers vertiefte sich. Er kam einen halben
Schritt näher und bewegte sich zugleich ein Stück zur Seite. Er musterte Abu Dun und Andrej auf eine Art, die sie beide nur zu gut kannten. Der Ausdruck in seinem Blick war nicht mehr bloßes Misstrauen, sondern das Abwägen eines Kriegers, der seinen Gegner einzuschätzen versucht. Seine Hand hatte sich fester um seine Waffe geschlossen. Andrej sah,
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