Der gelbe Handschuh
balancierte ein Tablett mit Fruchtsäften durch die Tür.
„Wer ist denn da mitten in der Nacht so witzig?“ stöhnte der Knabe Ulli Wagner verschlafen. Vorläufig guckten von ihm nur ein paar Haare und ein Stück Ellenbogen unter der Bettdecke hervor.
„Wir haben heute abend Heiligen Abend“, erwiderte der langhaarige Horst. „Demzufolge haben wir heute morgen Heiligen Morgen. Ist das nun logisch oder nicht?“ Er strahlte, als ob er gerade den Reißverschluß erfunden hätte.
„Bei Ihren Witzen wird ja die Milch sauer, mein Herr“, knurrte Ulli. Er schlug jetzt die Bettdecke zurück und setzte sich auf. „Wie lange dauert’s noch, bis wir in Trinidad einlaufen?“
„Da muß ich Sie leider enttäuschen“, erklärte der junge Kabinensteward. „Aber vielleicht kippen sich die Herren zuerst mal einen Orangensaft hinter die Binde? Das beruhigt.“ Dabei wanderte er mit seinem Tablett von einem zum anderen.
„Ich bin bereit“, stellte Peter Finkbeiner fest, nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte. „Also, was ist los?“
„Leider müssen wir an Trinidad vorbeisegeln“, gab der Kabinensteward Horst bekannt. „Im Hafen streiken nämlich seit gestern die Lotsen und die Schlepper. Sie lassen kein Schiff heraus und keins hinein. Der Kapitän dampft also gleich weiter nach Barbados. Was bedeutet, daß wir heute anstelle des Landausflugs einen ganzen Tag auf See sind.“
„Das Leben ist voller Überraschungen“, stellte Ulli Wagner weise fest und nahm jetzt auch einen Schluck Orangensaft. Plötzlich blickte er auf. „Aber dann sind wir doch früher auf Barbados und können dort länger bleiben?“
„Es ist euch also noch nicht aufgefallen, daß wir seit längerer Zeit nur halbe Fahrt machen?“ fragte der langhaarige Kabinensteward. „Wir dürfen in jedem Hafen nämlich nur zu den Zeiten einlaufen und ablegen, die für uns reserviert sind, weil sonst die Fahrpläne ins Schleudern kommen und alles, was damit zusammenhängt. Wir sind ja nicht das einzige Schiff.“ Er blickte auf seine Armbanduhr. „Aber jetzt muß ich zuerst mal wissen, ob ich die Kabinen 220 und 224 wecken soll oder nicht.“ Er zupfte seinen schwarzen Schlips gerade. „Einerseits war sieben Uhr abgemacht, andererseits versäumen die Herrschaften unter den neuen Umständen nichts, wenn sie weiterschlafen.“
„Das sollen die Herrschaften selbst entscheiden“, schlug Ulli vor. Er warf seine Beine in die Luft, war mit einem Sprung am Telefon und ließ sich mit der Kabine 224 verbinden.
„Ja, bitte“, meldete sich eine verschlafene Stimme. „Einen vorzüglichen guten Morgen, Herr Wagner, es ist sieben Uhr, und ich wollte nur fragen, ob Sie geweckt werden wollen oder nicht?“ flötete Ulli ins Telefon.
„Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank“, brummte Herr Wagner, und dann fragte er: „Aber sonst ist bei euch hoffentlich alles in Ordnung?“
„Bis auf Trinidad „Wieso, was ist damit?“
„Trinidad fällt leider ins Wasser.“
„Das soll wohl ein Witz sein?“
„Für Witze ist hier ausschließlich der Kabinensteward zuständig.“ Ulli kicherte. „Im übrigen müssen wir jetzt auch das Ehepaar Finkbeiner fragen, ob es geweckt werden will oder nicht. Gestatten Sie also, daß ich auflege, Herr Wagner.“
Jetzt flitzte Peter zum Telefon und verlangte die Kabine mit der Nummer 220. Und da zeigte es sich, daß das Apothekerehepaar schon seit einer halben Stunde auf den Beinen war.
„Dein Vater ist beim Zähneputzen“, sagte Frau Finkbeiner. „Du mußt dich also damit abfinden, daß dir im Augenblick nur deine Mutter zur Verfügung steht. Habt ihr schon was von Trinidad entdeckt? Ich gucke laufend durchs Bullauge und seh’ nichts als Wasser und Himmel!“
„Das wird sich leider auch nicht so schnell ändern“, sagte Peter bedauernd, und dann ließ er den Kabinensteward Horst seiner Mutter erzählen, was passiert war.
„Verflixt noch mal“, sagte Frau Finkbeiner schließlich, und dann bedankte sie sich für die Auskunft.
Eine halbe Stunde später saßen die beiden Familien aus Berlin im Speisesaal.
„Es tut mir schrecklich leid“, bemerkte Herr Rehbein, und sein Marzipangesicht legte sich dabei zum ersten Mal in traurige Falten. „Immerhin bedeutet das für Sie ein ganzes Reiseziel weniger.“
„Wenn man alles mehr oder weniger geschenkt kriegt“, erwiderte Frau Finkbeiner, „ist es nicht ganz so schlimm, wenn eine Insel unter den Tisch fällt. Es bleiben ja noch genug
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