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Der gelbe Tod

Titel: Der gelbe Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert W. Chambers
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Flüssigkeit ihre kristallene Klarheit. Für eine Sekunde war die Blume in milchigweißen Schaum gehüllt, der sich auflöste, worauf die Flüssigkeit schließlich bunt schillerte. Wechselnde Schattierungen von orange bis hochrot spielten auf der Oberfläche, und dann stieg mit einem Schlag ein Strahl wie aus reinem Sonnenlicht vom Boden auf, wo die Blume lag. Im selben Augenblick tauchte er seine Hand in das Becken und zog die Blume heraus. »Es ist nicht gefährlich«, erklärte er, »wenn man den richtigen Moment abwartet. Der goldene Strahl ist das Zeichen.«
    Er hielt mir die Lilie entgegen, und ich nahm sie in die Hand. Sie war zu Stein geworden, zum reinsten Marmor.
    »Sehen Sie«, sagte er, »sie ist ohne Makel. Welcher Bildhauer könnte sie nachbilden?«
    Der Marmor war schneeweiß, aber tief in ihrem Inneren waren die Adern der Lilie von durchscheinendem Blau, und eine zarte Röte lebte in ihrem Herzen fort.
    »Frag mich nicht, warum das so ist«, lächelte er, als er meine Verwunderung bemerkte. »Ich habe keine Ahnung, warum die Adern und das Herz diese blasse Färbung haben, aber es ist immer so. Gestern machte ich den Versuch mit einem von Genevièves Goldfischen – hier ist er.«
    Der Fisch sah aus wie in Marmor gehauen. Aber wenn man ihn gegen das Licht hielt, war der Fisch wunderschön mit zartblauen Adern durchzogen, und von irgendwo her kam ein rosiger Schein, wie der Farbhauch, der im Opal schlummert. Ich schaute in das Becken. Es schien jetzt wieder mit dem klarsten Kristall gefüllt.
    »Wenn ich es jetzt berühren würde?« fragte ich.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete er, »aber versuch es lieber nicht.«
    »Eins würde ich gerne wissen«, sagte ich, »und zwar, woher der Lichtstrahl kam.«
    »Er sah in der Tat wie ein Sonnenstrahl aus«, erwiderte Boris. »Ich weiß es nicht. Er erscheint immer, wenn ich ein lebendes Wesen eintauche. Vielleicht«, fuhr er lächelnd fort, »vielleicht ist es der Lebensfunke der Kreatur, der zu der Quelle entflieht, aus der er entsprang.«
    Ich sah, daß er scherzte und drohte ihm mit einem Malerstock, aber er lachte nur und wechselte das Thema.
    »Bleib zum Essen da. Geneviève wird jeden Moment hier sein.«
    »Ich habe sie zur Frühmesse gehen sehen«, sagte ich, »und sie sah so blühend und süß aus wie diese Lilie – bevor du sie zerstört hast.«
    »Glaubst du, daß ich sie zerstört habe?« fragte Boris ernst.
    »Zerstört, erhalten, woher sollen wir das wissen?« Wir saßen in der Ecke eines Ateliers, nahe bei seiner unvollendeten Gruppe der ›Schicksalsgöttinnen‹. Er hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht und beäugte, während er mit einem Bildhauermeißel spielte, sein Werk.
    »Ich habe übrigens den letzten Schliff der alten, akademischen Ariadne beendet, und ich nehme an, es wird zur Ausstellung gehen müssen. Es ist alles, was ich in diesem Jahr geschafft habe, aber nach dem Erfolg, den mir die ›Madonna‹ eintrug, ist es mir peinlich, so etwas zu schicken.«
    Die ›Madonna‹, eine hervorragende Marmorplastik, für die Geneviève Modell gesessen hatte, war die Sensation der Ausstellung des vergangenen Jahres gewesen. Ich betrachtete die Ariadne. Es war ein technisch hervorragend gearbeitetes Stück, aber ich gab Boris recht, daß die Welt etwas Besseres von Boris erwartete als das. Aber es war unmöglich, daran zu denken, die großartig furchtbare, halb in Marmor gehüllte Gruppe hinter mir rechtzeitig zur Ausstellung fertigzustellen. ›Die Schicksalsgöttinnen‹ würden warten müssen.
    Wir waren stolz auf Boris Yvrain. Wir betrachteten ihn als unser Eigentum und er uns ebenso kraft der Tatsache, daß er in Amerika geboren war, obwohl sein Vater Franzose und seine Mutter Russin war. Jeder, der etwas mit der Bildenden Kunst zu tun hatte, nannte ihn bei seinem Vornamen, Boris. Aber es gab nur zwei Menschen, die er in der gleichen vertrauten Weise ansprach: Jack und mich.
    Vielleicht hatte meine Liebe zu Geneviève etwas mit seiner Zuneigung zu mir zu tun. Nicht, daß es je zwischen uns zur Sprache gekommen wäre. Aber als alles geklärt war und sie mir mit Tränen in den Augen gestanden hatte, daß es Boris war, den sie liebte, ging ich zu ihm hinüber und beglückwünschte ihn. Ich war immer überzeugt, daß die vollkommene Herzlichkeit dieser Unterredung keinen von uns täuschte, obwohl sie zumindest für einen ein großer Trost war. Ich glaube nicht, daß er und Geneviève das Thema je berührten, aber Boris wußte

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