Der gelbe Tod
Angelegenheit. Ich sah ihn an. Ich konnte meinen Blick nicht von seiner schwarzen Gestalt und von seinem weißen Gesicht lösen. Als er sich genau mir gegenüber befand, drehte er sich um und warf quer durch die Kirche, direkt in meine Augen, einen Blick von tiefem, tödlichem Haß. Ich hatte nie einen ähnlichen gesehen, und gebe Gott, daß ich ihn nie wieder sehen muß! Dann verschwand er durch dieselbe Tür, durch die ich ihn weniger als sechzig Sekunden zuvor hatte gehen sehen. Ich saß da und versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Meine erste Empfindung war die eines sehr kleinen Kindes, dem jemand sehr wehgetan hat, wenn es Atem holt, bevor es aufschreit.
Mich unvermittelt einem solchen Haß ausgesetzt zu sehen, war außerordentlich schmerzhaft; und dieser Mann war ein vollkommen Fremder. Warum konnte er einen solchen Haß gegen mich haben? Gegen mich, den er nie zuvor gesehen hatte. In diesem Augenblick gingen alle anderen Empfindungen in diesem einen Schmerz unter, selbst die Angst war dem Kummer unterworfen, und in diesem Moment hatte ich keinen Zweifel. Aber im nächsten begann ich nachzudenken, und ein Gefühl der Widersprüchlichkeit kam mir zu Hilfe.
Wie ich schon sagte, ist St. Barnabé eine moderne Kirche. Sie ist klein und hell, man kann sie fast mit einem Blick überschauen. Die Orgelempore liegt in hellem Licht von einer Reihe hoher Fenster im Lichtgaden, die nicht einmal bunte Scheiben haben.
Da sich die Kanzel in der Mitte der Kirche befindet, ist es selbstverständlich, daß, als ich ihr zugewandt war, alles, was sich auf der Westseite bewegte, meinen Blick anziehen mußte. Es war nicht verwunderlich, daß ich den Organisten gesehen hatte, als er vorüberging. Ich hatte lediglich die Zeitspanne zwischen seinem ersten und seinem zweiten Auftauchen falsch berechnet. Er war das zweite Mal durch die entgegengesetzte Tür gekommen. Und was den Blick betraf, der mich so beunruhigt hatte, so hatte es ihn nicht gegeben, und ich war ein nervöser Narr.
Ich sah mich um. Dies war der richtige Ort, um übernatürliche Schrecken zu beherbergen! Das klargeschnittene, vernünftige Gesicht von Monsignore C-, sein gesetztes Benehmen und seine leichten, anmutigen Bewegungen, waren sie nicht der Vorstellung von einem furchtbaren Geheimnis ein wenig abträglich? Ich blickte über seinen Kopf und brach fast in Gelächter aus. Diese fliegende Dame, die eine Ecke des Kanzelhimmels stützte, der wie ein fransengesäumtes Damasttischtuch im Sturm aussah, sie würde beim ersten Versuch eines Basilisken, sich dort auf der Orgelempore aufzubauen, ihre Goldtrompete auf ihn richten und ihn aus dem Dasein schmettern! Ich schmunzelte über diesen Einfall, den ich zu diesem Zeitpunkt sehr belustigend fand, und machte mich über mich selbst und alles andere lustig, von der alten Furie vor der Absperrung, die mir zehn Centimes für meinen Stuhl abgenommen hatte, bevor sie mich einließ (ich sagte mir, daß sie einem Basiliken ähnlicher war als mein Organist mit den anämischen Zügen), von dieser grimmigen alten Dame bis zu, ja, leider bis zu Monsignore C- selbst. Denn alle Ergebenheit war von mir gewichen. Ich hatte nie zuvor in meinem Leben so etwas getan, aber jetzt verspürte ich den Wunsch, Possen zu treiben.
Von der Predigt konnte ich kein Wort verstehen, denn das Klingeln in meinen Ohren
›Die Grenzen von St. Paul sind erreicht.‹
Nachdem er uns diese sechs Fastenpredigten
gehalten hatte,
Predigte er salbungsvoller denn je,
ging einher mit den phantastischsten und unehrerbietigsten Gedanken.
Es hatte keinen Sinn, länger zu verweilen, ich mußte hinausgehen und diese verhaßte Laune abschütteln. Ich war mir der Unhöflichkeit bewußt, die ich beging, aber ich erhob mich dennoch und verließ die Kirche.
Die Frühlingssonne schien über der Rue St. Honoré, als ich die Kirchenstufen hinunterlief. An einer Ecke stand ein Schubkarren voller gelber Narzissen, blasser Veilchen von der Riviera, dunkler russischer Veilchen und weißer römischer Hyazinthen in einer goldenen Wolke von Mimosen. Die Straße war von Sonntagsspaziergängern belebt. Ich schwang meinen Stock und mischte mich unter die Menschen. Jemand überholte mich und ging an mir vorüber. Er drehte sich nicht um, aber in seinem Profil lag dieselbe tödliche Bosheit, die ich in seinen Augen gesehen hatte. Ich blickte ihm nach, solange ich ihn sehen konnte. Sein schmaler Rücken drückte die gleiche Bedrohung aus, jeder Schritt, der ihn von mir
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