Der gelbe Tod
schon fast wieder erreicht hatte, kam eine freie Kutsche vorüber, und ich hielt sie an.
Die Fahrt vom Arc bis zur Rue de Rennes dauert länger als eine halbe Stunde, besonders, wenn man von einem müden Kutschengaul gezogen wird, der der Gnade von Sonntagsausflüglern ausgesetzt war.
Bevor ich unter den Drachenflügeln hindurchfuhr, war ausreichend Zeit gewesen, meinem Feind immer wieder zu begegnen, aber ich erspähte ihn nicht ein einziges Mal, und nun war meine Zuflucht nahe.
Vor der breiten Toreinfahrt spielte eine Bande Kinder. Unser Hausmeister und seine Frau gingen mit ihrem schwarzen Pudel zwischen ihnen auf und ab, um für Ordnung zu sorgen, einige Paare schlenderten über den Gehweg. Ich erwiderte ihre Grüße und trat eilends ein.
Alle Bewohner des Platzes hatten sich auf die Straßen hinaus begeben. Der Platz war fast verlassen, erleuchtet von einigen wenigen, hoch hängenden Straßenlaternen, in denen das Gas trübe brannte.
Meine Wohnung befand sich im Dachgeschoß eines. Hauses in der Mitte des Platzes. Sie war über eine Treppe zu erreichen, die, von einem kurzen Korridor begrenzt, fast bis auf die Straße führte. Ich setzte meinen Fuß auf die Schwelle der offenen Tür, die freundlichen, alten, zerfallenen Stufen führten vor mir hinauf, wo ich Ruhe und Schutz finden würde. Als ich über die rechte Schulter einen Blick zurück warf, sah ich ihn , zehn Schritte hinter mir. Er mußte den Platz mit mir betreten haben.
Er kam geradewegs auf mich zu, weder langsam noch eilig, aber genau auf mich zu. Und nun sah er mich an.
Zum ersten Mal, seit unsere Augen sich quer über die Kirche gefunden hatten, trafen sie sich nun wieder, und ich wußte, daß die Zeit gekommen war.
Während ich den Platz hinunter zurückwich, sah ich ihn an. Ich hoffte, durch den Eingang an der Rue du Dragon zu fliehen. Seine Augen sagten mir, daß ich niemals entkommen würde.
Jahrhunderte schienen zu vergehen, während wir uns vollkommen schweigend den Platz hinunter bewegten, ich zog mich zurück, er folgte, aber schließlich spürte ich den Schatten des Torbogens, und mit dem nächsten Schritt trat ich hinein. Aber der Schatten w;ar nicht der eines Torbogens, sondern einer Gruft. Die großen Tore zur Drachenstraße waren geschlossen. Ich merkte es an der Finsternis, die mich umfing, und im selben Moment las ich es in seinem Gesicht. Wie sein Gesicht in der Dunkelheit leuchtete, als er schnell näherkam! Die tiefe Gruft, die riesigen, verschlossenen Türen und ihre Eisenriegel, alles war auf seiner Seite. Das, was er mir angedroht hatte, war eingetreten: es ballte sich zusammen und senkte sich aus den undurchdringlichen Schatten schwer auf mich nieder, der Punkt, von dem aus es zuschlagen würde, waren seine teuflischen Augen. Hoffnungslos stellte ich mich mit dem Rücken an die vergitterten Türen und bot ihm die Stirn.
Ein Stühlescharren und Rascheln zeigte an, daß die Gemeinde sich erhob. Ich konnte den Stab des Schweizer Gardisten, der Monsignore C- in die Sakristei vorausging, im Südflügel hören.
Die knienden Nonnen, aus ihrer hingebungsvollen Andacht gerissen, bekreuzigten sich und gingen. Meine elegante Nachbarin erhob sich ebenfalls mit anmutiger Zurückhaltung. Als sie ging, streifte ihr Blick mißbilligend mein Gesicht.
Halb tot, so schien es mir jedenfalls, jedoch aufs höchste empfindlich für jede Kleinigkeit, saß ich in der gemächlich sich bewegenden Menge, dann erhob ich mich auch und begab mich zur Tür.
Ich hatte die Predigt verschlafen. Hatte ich die Predigt verschlafen? Ich blickte auf und sah ihn über die Empore zu seinem Platz gehen. Nur seine Seite konnte ich erkennen. Der dürre Arm baumelte in seiner schwarzen Umhüllung wie eines dieser teuflischen, namenlosen Instrumente, die in den Folterkammern mittelalterlicher Burgen liegen.
Aber ich war ihm entkommen, obwohl seine Augen gesagt hatten, daß es mir nicht gelingen würde. War ich ihm entkommen? Das, was ihm Macht über mich verliehen hatte, stieg aus dem Vergessen wieder auf, in dem ich geglaubt hatte, es halten zu können. Denn ich erkannte ihn jetzt. Der Tod und der furchtbare Wohnort der Verlorenen Seelen, zu dem meine Schwäche ihn vor langer Zeit gesandt hatte – sie hatten ihn für jedes andere Auge unkenntlich gemacht, aber nicht für meines. Ich hatte ihn fast vom ersten Augenblick an erkannt; ich war keine Sekunde im Zweifel darüber, was zu tun er gekommen war, und nun wußte ich, daß er, während mein Körper sich
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