Der Genitiv ist dem Streber sein Sex • und andere Erkenntnisse aus meinem Leben 2.0
öffnete stattdessen meinen Wanderführer. Ich schaute unter Eckelsbach, Frunzenhausen oder Wurlitzerrode nach, fand tatsächlich den Weg und las, wie es weitergehen sollte: «Kurz vor einem Föhrenwäldchen erreichen wir die Mäander des Durbachs, wo früher solide Grauwacke gebrochen wurde. Vor dem alten Molitorhof nehmen wir die ausgebaute Viehtrift links des Backes und durchqueren so den Siefen.» Ich steckte den Wanderführer weg und griff nochmal zum Telefon, um «Grauwacke», «Backes» und «Siefen» zu googeln. Doch jetzt konnte sich mein Handy nicht länger zusammenreißen, prustete in sein Gehäuse hinein, ließ den letzten kleinen Empfangsbalken aus dem Display verschwinden und verabschiedete sich in den «Komplett unnütz»-Modus. Ich war offiziell am Arsch.
Wahrscheinlich überlegen jetzt die ersten 29-Jährigen, ob sie nicht einfach den Kopf etwas fester in den Garderobenstapel pressen sollen, um ihren dreißigsten Geburtstag gar nicht erst zu erleben. Aber halt! Das Beste, nee, das einzig Gute an der ganzen Wanderei kommt jetzt!
Denn kaum ist man mal sieben Stunden durchs Dickicht gestrunkelt, hat sich das Gesicht an Brombeerhecken zerkratzt und die Füße an großen Klumpen Grauwacke blutig geschlagen, da öffnet sich der Wald, und man sieht ihn: den Landgasthof.
Es ist das mittlere Haus in einem aus höchstens drei Gebäuden bestehenden Ort. Vor dem Landgasthof steht eine Tafel mit dem Bild eines dicken Kochs und der Aufschrift «Wir empfehlen». Sonst steht nichts drauf, man muss auch nichts empfehlen, ist eh das einzige Wirtshaus weit und breit. Wer was essen will, kommt hierher. Man kann ja schlecht auf die Tafel schreiben: «Wir empfehlen: Was essen!»
Der hungrige Wanderer öffnet also die Tür und tritt in den dunklen Gastraum. An den Wänden hängen Rehgeweihe und ausgestopfte Wildschweinköpfe. Auf einer Fensterbank sitzt ein verstaubter Porzellan-Pierrot mit einer Träne auf der Wange. Man setzt sich an einen Tisch, auf dem eine Decke liegt, die zwar aus zehn Metern Entfernung aussieht wie handgeklöppelt, in Wahrheit aber aus abwaschbarem Plastikschaum besteht. Die Tischdeko beschränkt sich auf ein Fläschchen Maggiwürze. Im Landgasthof weiß man noch, worauf es ankommt.
An der Theke lehnt die deutlich zu dicke Tochter des Hauses und gähnt, weil sie gestern mit der Jessi, dem Wupsi und dem Checker bis fünf Uhr morgens in der «Phoenix» tanzen war.
Dann plärrt ihr Vater einen Befehl aus der Küche, und sie bringt einem die Karte an den Tisch.
Die Speisekarte des Landgasthofs zeichnet sich vor allem durch die vollkommene Abwesenheit der Präposition
an
aus. Hier gibt es kein «Steak an Bohnen», keinen «Zander an jungen Kartoffeln» und kein «Lammcarré an Topinambur». Im Landgasthof ist alles noch
mit
. Es gibt «Wildgulasch mit Spätzle», «Rinderrouladen mit Salzkartoffeln» und «Sauerbraten mit Klößen», auch in der Seniorenversion mit vier statt fünf Scheiben Fleisch. Sogar für Vegetarier gibt es etwas im Landgasthof, zum Beispiel den Beilagensalat mit Schinkenstreifen.
Echte Profis essen im Landgasthof aber sowieso nur das eine: Schnitzel. Die sind aus Schweinefleisch oder Kalbfleisch, vielleicht auch aus irgendwas anderem, das interessiert hier keinen. Ein gutes Schnitzel muss nicht zart sein und nicht raffiniert gewürzt. Ein gutes Schnitzel ist eines, das links und rechts vom Teller lappt. Und paniert muss es sein. Im Landgasthof ist jedes Schnitzel paniert, egal ob Wiener Schnitzel, Zigeunerschnitzel oder «Schnitzel Hawaii». Sogar das Schnitzel «Natur» ist paniert, kann man ja abkratzen, wenn man’s nicht mag. (Eine echte Herausforderung ist übrigens das Jägerschnitzel: Wer es bestellt, sollte zusehen, dass er es isst, bevor die Panade die Soße restlos aufgesaugt hat und die Champignons auf dem aufgeschwemmten Semmelbrösel-Pampf liegen wie Fische auf dem Boden eines ausgetrockneten Sees.)
Man isst also und isst, man schnauft und prustet, man isst weiter und bläst die Backen, bis der Knopf der Wanderhose vom Bund platzt und der immer noch gähnenden Bedienung in den Mund fliegt.
Und wenn man es dann endlich geschafft hat, wenn man den letzten Bissen in den Mund gesteckt hat – dann bestellt man sich noch ein Eis mit heißen Himbeeren und einen Cappuccino, der zu einem Achtel aus Nescafé und zu sieben Achteln aus Sprühsahne besteht.
Dann verlässt man den Landgasthof. Man hält sich den Bauch und versucht irgendwie weiterzuatmen. Man
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