Der Gesandte der Götter (German Edition)
Alte ihn näher betrachten können. Seine große, breite Gestalt war hager geworden und einige tiefe Linien hatten sich in sein gut geschnittenes Gesicht eingegraben. Der früher so heitere Mund hatte einen harten, bitteren Zug bekommen. Seine graublauen Augen hatten ihren milden Glanz verloren und zeigten stattdessen einen Ausdruck von Schwermut. Die Arbeit auf den Feldern hatte seine Haut zwar wieder gebräunt, doch sein dunkles Haar war an den Schläfen bereits mit grauen Strähnen durchzogen, obwohl er sein dreißigstes Jahr noch nicht erreicht hatte. Nein, es war nicht verwunderlich, dass das Volk auf den Straßen seinen Herrn nicht mehr erkannt hatte, zumal nach so langer Zeit niemand mehr mit seiner Rückkehr rechnete.
Der Diener erhob sich von seinem Stuhl, ergriff einen Leuchter und schritt dann vor seinem Herrn die Treppe hinunter. Es wunderte Chiron zwar nicht, dass Ordin ihn zu den Gemächern führte, die er selbst als König bewohnt hatte, aber er musste doch feststellen, dass es ihn trotzdem unangenehm berührte. Doch er kämpfte dieses Gefühl nieder, denn es war ja nur logisch, dass Menas als König die Räume des Königs bewohnte, zumal ja mit seiner Rückkehr nicht zu rechnen gewesen war.
Vor der Tür standen zwei Wachen, die in den Händen gezogene Schwerter trugen, was Chiron sehr verwunderte. Ordin trat auf sie zu und sagte:
„Ein Fremder kommt mit Botschaft zu König Menas. Meldet uns an und lasst uns ein!“
Auch diese beiden Wachen fragten nach Chirons Namen und seinem Auftrag, doch auch ihnen gab er dieselbe Antwort wie den Wächtern am Tor.
„Gut“, sagte der eine, „wir werden Euch einlassen. Aber legt zuvor Euer Schwert ab!“
Chiron war befremdet. „Seit wann muss ein Ritter sein Schwert ablegen, wenn er mit Botschaft zu eurem König kommt? Wisst ihr nicht, dass ein Edelmann sein Schwert nie aus der Hand gibt?“
„Es ist der Befehl des Königs“, antwortete der Mann, „und so werdet auch Ihr Euch fügen müssen, wenn Ihr mit ihm sprechen wollt.“
Widerwillig löste Chiron sein Schwert vom Gehänge und gab es der Wache. Dann öffneten die Posten die Tür und Chiron folgte dem alten Ordin in die Räume.
Auf einem weichen, mit vielen Kissen bedeckten Sofa räkelte sich Menas, Chirons jüngerer Bruder. Menas hatte wenig Ähnlichkeit mit Chiron, denn er war blond und hatte strahlend blaue Augen, in denen jedoch ein hartes Glitzern lag. Sein hübsches, leicht feminines Gesicht wirkte sympathisch, bis man den gelegentlich um seine vollen, wollüstigen Lippen spielenden grausamen Zug entdeckte. Menas war etwa einen halben Kopf kleiner als Chiron und von feingliedriger Gestalt. Er machte schon auf den ersten Blick einen weichlichen und verwöhnten Eindruck. Doch Chiron fiel das nicht auf, denn er hatte in Menas immer nur den kleinen Bruder gesehen, für den er sich nach dem frühen Tod von dessen Mutter verantwortlich gefühlt hatte. Neben dem Sofa in einem Sessel saß ein dunkler, hagerer Mann mit brennenden schwarzen Augen, den Chiron sofort erkannte: Xoras, der Magier!
„Was gibt es“, bellte Menas, „dass du es wagst, mich noch so spät zu stören?“
„Ein fremder Ritter kommt mit wichtiger Botschaft, Majestät“, sagte der alte Diener und verbeugte sich tief.
„Ein Fremder? Wer ist er und woher kommt er?“ knurrte Menas.
„Das zu erraten überlasse ich dir, Menas!“ antwortete Chiron anstelle von Ordin und trat vor, während der Alte sich rasch zurückzog.
Menas fuhr wütend hoch, weil der Fremde sich erdreistet hatte, ihn mit Du anzureden. Schon wollte er die Wache rufen, als ein furchtbarer Schrecken ihn erbleichen ließ. Auch Xoras war wie der Blitz aus seinem Sessel hochgeschossen und sah Chiron entgeistert und ungläubig an. Doch schon hatte der Magier sich wieder in der Gewalt, und ein falsches Lächeln zog über seine Lippen. Auch Menas riß sich zusammen und eilte auf Chiron zu.
„Bruder! Ist es denn möglich? Bist du es wirklich? Den Göttern sei Dank, dass du lebst! Wir alle wähnten dich tot. Wo warst du nur so lange?“
Erfreut schloss Chiron ihn in die Arme. „Ja, Menas, ich lebe! Aber wo ich gewesen bin, das ist eine lange Geschichte.“
„Komm, Chiron, setz dich zu mir! Du musst mir alles erzählen.“ Nichts in Menas Gesicht verriet, wie tief ihn dieses unerwartete Wiedersehen getroffen hatte. Chiron sah auch nicht, dass Xoras seinem Bruder heimlich ein Zeichen gab. Plötzlich
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